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Wiesbaden

Theater hinter Gittern

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Das Kultur- und Theaterprojekt „Die Werft“ bringt Farbe in den tristen Alltag der Häftlinge in der Wiesbadener Justizvollzugsanstalt Holzstraße (JVA). Wie junge Männer an ihren Aufgaben wachsen.

von Hendrik Heim

Mario* ist Häftling. Muskulös, schmales Gesicht (engstirnig ist ein herablassendes Wort und kann auch kleingeistig bedeuten). Er hat gelernt, sich vor den anderen zu beweisen, auch körperlich. Aber jetzt steht Mario auf der Bühne und ist total überfordert. Erst scheint es aussichtslos, er kann sich den Text nicht merken, sich nicht ausdrücken. Aber dann klappt es plötzlich. Im nächsten Jahr folgt die erste Hauptrolle, dann ein eigener Monolog. Und heute, nach der Haft, ist er studierter Schauspieler. Es sind Geschichten wie diese, die Regisseur Peter Protic bei seiner Theaterarbeit im Gefängnis als Spielort tragen. Der Name des Projekts, „Werft“, meint einen Ort, an dem Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen zusammenprallen. Neben Konzerten und Vorlesungen haben die gefangenen Männer des Jugendknasts für 18- bis 24-jährige nunmehr seit 16 Jahren die Möglichkeit, professionelle Theaterstücke auf die Beine zu stellen. Bei dieser Reibung entstehen Funken, die Protic versucht aufzufangen: „Das ganze Jahr lang bis zur Aufführung muss man als Gruppe zusammenarbeiten können.“ So entstanden dann klassische Inszenierungen wie „Macbeth“ von Shakespeare, aber auch selbstgeschriebene Stücke. Diese kommen als Themenvorschläge aus der Gruppe. 2015 griff man beispielsweise diverse, reale Terroranschläge als Theatergrundlage auf.

Raum der Grenzüberschreitung
Besonders bei der Werft ist, dass nahezu alle Regeln, die normalerweise in der Gefängniskultur gelten, im Theaterstudio auf Probe ausgesetzt sind. Protic schafft ganz bewusst diesen tabufreien Raum: „Was wir nicht wissen, können wir nicht bearbeiten.“ Teilweise flögen gerade die bedenklichsten Jungs durch perfektes Verstellen unter dem Radar, was erst in der Werft sichtbar werde. Gefangene werden zu Schauspielern mit fiktiven Rollen, persönliche Beziehungen treten in den Hintergrund. Dabei wachsen alle an ihren Aufgaben. Allein beim Erarbeiten eines gemeinsamen Stücks und im Spiel schafft Protic sehr häufig ein Umdenken bei den Teilnehmern. Man wird sozialer, nimmt Rücksicht aufeinander. Und das wirke sich auch über die Haft hinaus auf die Lebenseinstellung aus.

Sicherheit vs. Risiko
Ulrich Westermann ist der Vorsitzende des mit dem Gefängnis zusammenarbeitenden Fördervereins der JVA Holzstraße. Er organisiert Gelder und erlebt auch mal die eine oder andere Auseinandersetzung mit der Gefängnisleitung. Die stand grundsätzlich aber immer hinter dem Projekt. Während die oberste Priorität der JVA die räumliche und zeitliche Sicherheit ist, liegt die größte Ressource des Theaters im Risiko. Westermann: „Beides zusammen bringt Herausforderungen mit sich. Gerade das ist aber eben auch interessant.“ Dass das Konzept funktioniert, läge an jahrelangem Vertrauen und enger Abstimmung mit der Anstaltsleitung.

Die gesamte Theaterproduktion ist ein grenzüberschreitender Prozess. Es gelingt so einerseits eine Entspannung vom sonst sehr durchgetakteten Gefängnisalltag, andererseits aber auch eine Überforderung, die gezielt herbeigeführt ist. Sie sieht je nach den individuellen Voraussetzungen der Teilnehmer unterschiedlich aus. Ulrich Westermann erklärt das so: „Einer der Jungs hat mal gesagt: ´Das war der anstrengendste Job den ich bisher gemacht habe. Und der geilste.` Das trifft es perfekt.“

Die Arbeit im Gefängnis hat Regisseur Protic über die Jahre Demut gelehrt. Man bekomme viele Geschichten mit, sagt er. Geschichten, die einem normalerweise nie begegnen und die mit Mitleid, aber auch mit Wut verbunden seien. Er habe mit der Zeit ein Gefühl für die Komplexität eines Menschen entwickelt. Vereinsvorsitzender Westermann, vor seiner Zeit im Verein Flugkapitän der Lufthansa, findet, dass in der Werft viele Ziele, hinter der eine Gefängnisverwaltung steht, erreicht werden. Und das ohne Zwang. „Wir machen einfach Theater.“ Zukünftig will die Werft auch als Vorbild für andere Gefängnisse zu dienen.

Neues Projekt in Planung
Nach 16 Jahren will Theaterchef Peter Protic die Arbeit an andere Regisseur:innen abgeben. Wenn alles planmäßig verläuft, starten die Proben in neuer Besetzung im April, der Kartenverkauf für die neue Inszenierung könnte im Herbst beginnen. Die Theateraufführungen darf grundsätzlich jede volljährige Person besuchen. Allerdings ist davor eine Sicherheitsüberprüfung notwendig. Die Vorstellungen sind erfahrungsgemäß schon nach wenigen Stunden ausgebucht.

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