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Gesellschaft

Gesund im kranken System?

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Psychisch Erkrankte werden oft entkoppelt von dem System, in dem sie leben, betrachtet, als Individuen, die ihr Glück selbst in der Hand halten. Dabei sind es die gesellschaftlichen Umstände, die unter die Lupe genommen werden sollten.

von Isabel Page

„Jetzt bleiben wir mal wieder bei uns, am System können wir ja nichts ändern.“ Meine Ohren klingeln als die Psychotherapeutin und Leiterin der Gruppentherapie diesen Satz säuselt. Meine Mitpatienten, die sich eben noch über zu viel Arbeit für zu wenig Zeit und zu wenig Angestellte, zu viel Druck, kein Privatleben, BullshitJobs, das ewige Immer-schneller-immer-mehr beklagten, verstummen. Die Zahlen der gesetzlichen Krankenkassen zu psychischen Erkrankungen untermauern die Berichte über schlaflose Nächte und Panikattacken vor Schichtbeginn, die Prävalenz psychischer Erkrankungen steigt seit Jahren. Eine Studie der Bertelsmannstiftung aus 2015 zeigt, ein Viertel der Beschäftigten ist mit einem Arbeitstempo konfrontiert, das es nicht langfristig aufrecht erhalten kann. Die müden Stuhlkreisgesichter erzählen von Vorgesetzten, die schöne Versprechungen machten, Workshops zur Verbesserung der Stress-Resilienz oder Teambildung sponsorten, höhere Löhne oder angepasste Arbeitspensen aber für unmöglich erklärten.

Diese Absurdität macht mich wütend. Irgendwo in Deutschland sitzen in diesem Moment doch auch ausgebrannte Vorgesetzte zusammen in einer schicken Privatklinik und klagen ihr Leid. Über zu hohen Druck seitens der Aktionäre und zerbrochene Beziehungen zu Partner:innen und Kindern, aufgrund des ständigen Arbeitens. Alle schubsen dasselbe Hamsterrad an, das sie durch das Leben jagt. Entgegen der Meinung der Therapeutin kann ich nicht anders, als mir die Systemfrage zu stellen. Das Hamsterrad hat doch einen Namen. Und zwar die Neoliberalisierung unseres Lebens. Wie die israelische Soziologin Eva Illouz und der spanische Psychologe Edgar Cabanas in ihren Arbeiten zeigen, ermöglichte es die „individualistische Revolution“ die strukturellen Defizite von Gesellschaften in psychologische Faktoren umzuwandeln und damit in die Verantwortung der Individuen zu legen. Ich bin also selbst schuld, wenn ich es als Managerin meines Lebensprojekts nicht schaffe, mir mein Ideal individuellen Glücks zu erarbeiten. Dieses Narrativ legitimiert den Abbau des Sozialen und entpolitisiert die Schicksale von Menschen. Leiharbeit in der Pflege und im Versandhandel, das Angestelltendasein bei einer App als Fahrerin des eigenen Rades oder Autos werden als Freiheitsgewinne dank Flexibilisierung und Entgrenzung von Arbeit verkauft. Aber ist die Entwicklung einer psychischen Erkrankung als Reaktion auf ständige Unsicherheit und Konkurrenz da nicht eine gesunde Reaktion?

Die Therapien in der Klinik wollen das Individuum durch Bewegung, Gespräche, Achtsamkeitsübungen, das Erlernen von sozialen Kompetenzen und so weiter stabilisieren. Überspitzt gesagt, so fit zu machen, dass es wieder ein paar Jahre funktioniert. Ganz im Sinne des Übels, dessen Namen nicht genannt werden darf.

In der Therapie lerne ich aber auch, dass es wichtig ist, Emotionen zuzulassen und als Motor meines Verhaltens einzusetzen. Meine Enttäuschung am Boxsack rauszulassen sei kontraproduktiv, da die Energie dort einzusetzen sei, wo die Enttäuschung entstehe und verhindert werden könne. Emotionen sind Botschaften, die uns an diese innere Ahnung erinnern, was für uns richtig ist, oder eben auch nicht.

Warum lassen wir das System, in dem wir leben, dann außen vor? Wie der lateinische Begriff „depressare“ ausdrückt, führt Jahre langes „niederdrücken“ von Wut über zu hohe Anforderungen, Selbstoptimierungsdruck und entfremdete Tätigkeiten irgendwann zu Apathie. Die Energie wird genutzt im Versuch, sich an das System anzupassen, anstatt für die Kreation eines Systems, das zu den darin lebenden Menschen passt. So schlecht mein Klinikaufenthalt auch davonkommen mag, schlussendlich gebe ich zu, dass es doch ein bisschen geholfen hat. Im Nachhinein klingt das simpel, aber es waren die Menschen, die im selben Boot saßen wie ich. Was kitschig klingen mag, ist deshalb nicht weniger wahr, Gemeinschaft heilt. Selbst wenn es in der Klinik verboten ist, über Politik zu sprechen, so hoffe ich, dass jede:r Patient:in die urpolitische Lektion mitnimmt, dass individuelles Glück kollektive Solidarität braucht. Bei aller Freiheit, die uns der Neoliberalismus verkaufen will, echte Freiheit kann ohne sozioökonomische Sicherheit nicht existieren.

Illustration: Nikolas Hönig

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