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Gesellschaft

Auf der Suche nach den Hundertjährigen

Im Gespräch mit STUZ erzählt Karsten Thormaehlen, der Fotograf hinter dem Bildband „100 Jahre Lebensglück“, von seinem Werdegang, der Inspiration für seine Arbeit und warum das Älterwerden nichts mit Stillstand zu tun hat.

von Caroline Alberta Glabacs

Er hat Parfumkampagnen für Davidoff, Jil Sander und Douglas entworfen, war Art Director in New York City und hat Stars wie Isabella Rossellini fotografiert. Heute, mit 60 Jahren, porträtiert Karsten Thormaehlen Menschen auf der ganzen Welt, die das Alter von 100 Jahren überschritten haben. Damit zeigt er, dass Würde, Lebensfreude und Neugier kein Ablaufdatum haben.

Nach seiner Lehre und dem Zivildienst absolvierte er einen Begabtentest für Kommunikationsdesign an der Hochschule Wiesbaden und bestand diesen erfolgreich. Dann verschlug es ihn in die Werbung. „Mich hat das Künstlerische an dem Bereich interessiert, nicht das Handwerkliche“, erzählt Thormaehlen. Der Wendepunkt kam 1994, als er nach New York City zog und dort als Art Director für internationale Parfummarken zu arbeiteten begann. „Damals floss noch richtig viel Geld in Fotografie. Man konnte mit den besten Fotograf:innen der Welt arbeiten und sich kreativ austoben“, erinnert er sich. Doch irgendwann verlor er den Spaß an der inszenierten Perfektion. „Die Produktfotografie wurde zur Fließbandarbeit. Zunehmend machten automatisierte Roboter die Aufnahmen und da wurde mir klar: dafür ist mir der Beruf zu schade“, resümiert der Fotograf. Er machte sich Anfang der 2000er selbstständig und fand unter anderem in der Porträtfotografie seine neue Mission.

Rund um die Welt
Seit 2006 reist Karsten Thormaehlen um die Welt, um Hundertjährige zu porträtieren – in Japan, Costa Rica, Peru oder Thüringen. Fast 50 Länder hat er inzwischen besucht. Besonders inspirierend für das Thema Älterwerden findet er Japan. Mit dem Rekordwert von 1 zu 1.000 verzeichnet Japan weltweit die meisten Hundertjährigen. Im Vergleich dazu liegt Deutschland bei einem Verhältnis von 2 zu 10.000. Seine Arbeit versteht er als Mischung aus Dokumentation, künstlerischem Schaffen und gesellschaftlichem Beitrag: „Ich dokumentiere Menschen, aber ich inszeniere sie auch als Kunstwerke. Und letztlich ist es ein sozialer Beitrag, weil Menschen angeregt werden, über das Alter nachzudenken. Denn jung waren wir alle, alt muss man erst werden.“ Seine Porträts sind keineswegs klinische Abbildungen, sondern emotionale Begegnungen auf Augenhöhe. Er sucht die Nähe, das Authentische, das Würdevolle.

Und was können junge Menschen von den Hundertjährigen lernen? „Eigentlich alles“, lacht Thormaehlen und ergänzt: „Sie wissen, dass Besitz und Trends auf lange Sicht nicht glücklich machen. Sie leben einfacher, bewusster, mit weniger materiellen Bedürfnissen. Sie haben gelernt, das Leben zu genießen, Spaß zu haben und die wichtigen Dinge im Leben zu sehen.“ Auch Geduld und Gelassenheit zählen für ihn zu den Lektionen, die man aus den Begegnungen mit Hochbetagten ziehen könne. An dieser Stelle zitiert Thormaehlen David Bowie: „Im Alter wird man erst der, der man immer sein wollte. Das stimmt. Die ältere Generation hat verstanden, was im Leben wirklich zählt.“

Karsten Thormaehlens Reisen führen ihn in alle Welt. Neben Südamerika, den Vereinigten Staaten und Japan nennt er Island als eine seiner Lieblingsdestinationen. Dort gewann er auch seinen ersten Fotopreis. Die Suche nach seinen Porträtierten verläuft oft abenteuerlich. „Manchmal finde ich die Menschen über das Internet, mal über lokale Tipps, mal einfach durch Zufall. Nach Costa Rica bin ich einfach geflogen, ohne Anhaltspunkt. Nach ein paar Tagen hatte ich fünf Hundertjährige getroffen. Das waren gleich ein Viertel der Ü100er der Gesamtbevölkerung“, berichtet der erfahrene Fotograf. In seiner Arbeit stecken Philosophie, Empathie und ein Glaube oder vielleicht auch ein Appell an das Gute im Menschen. „Wir sind die einzige Spezies im Universum, die das Universum bewusst betrachten kann. Das allein macht uns wertvoll“, gibt er zu bedenken und fügt an: „Deshalb sollten wir lernen, das Leben mehr zu schätzen, also auch mit der Erde und miteinander respektvoller umzugehen.“ Derzeit arbeitet der Fotograf an mehreren Projekten, darunter einem neuen Buch über Seniorensportler:innen, einer Ausstellung zur häuslichen Pflege und einem Forschungsprojekt über Tagespflege aus der Sicht der Pflegenden. „Ich möchte zeigen, wie wichtig Gemeinschaft und Aktivität für ältere Menschen sind. Solange man lebt, muss man wirklich aktiv am Leben teilnehmen,“ erklärt Karsten Thormaehlen. In seiner Arbeit zeigt er, dass Altern nicht Stillstand bedeutet, sondern Tiefe. Seine Porträts sind eine Hommage an das gelebte Leben, und stille Appelle, das eigene bewusster zu führen. „Das Leben ist endlich, und genau deswegen ist es so kostbar.“

Wenn man ihn fragt, wie er sich selbst im hohen Alter sieht, antwortet er nachdenklich. „Ich sehe mich mit Blick aufs Meer oder einen See in der Toskana, mit vielen Büchern, einem Archiv und mit einer Portion angehäufter Weisheit. Und mit dem Gefühl, die Welt ein bisschen besser zu verlassen, als ich sie vorgefunden habe.“

WTF
karstenthormaehlen.com
Foto: Karsten Thormaehlen

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