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Gesellschaft Mainz Stadt Wiesbaden

Unsichtbare Spuren der Vergangenheit

Deutschlands koloniale Vergangenheit ist vielen kaum bewusst. Ein Grund dafür: Sie ist im öffentlichen Raum nur selten sichtbar. Das gilt auch für Mainz und Wiesbaden – obwohl beide Städte Spuren dieser Geschichte tragen.

von Janina Dillmann

Zwischen 1884 und 1919 war das Deutsche Kaiserreich Kolonialmacht mit Gebieten in Afrika, Asien und Ozeanien. In dieser Zeit verübte Deutschland den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts an den Herero und Nama im heutigen Namibia. Die systematische Ausbeutung Schwarzer Menschen trug zum wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands bei – bleibt in der deutschen Erinnerungskultur jedoch weitgehend ausgeblendet. Auch in Mainz und Wiesbaden fehlen sichtbare Hinweise. Die Postkoloniale Stadtkarte, ein Projekt des Evangelischen Dekanats Wiesbaden, erzählt anhand von Orten die Geschichte des Kolonialismus in Wiesbaden. Das Wort „postkolonial“ weist darauf hin, dass die Auswirkungen und Denkweisen des Kolonialismus auch nach dem offiziellen Ende kolonialer Herrschaft fortbestehen. So dokumentiert die Stadtkarte etwa eine Kolonialausstellung von 1899 im Paulinenschlösschen, bei der „ein junger Mann aus Togo als vermeintliches Zertifikat für die Echtheit der präsentierten Gegenstände und zur Belustigung der Besucher:innen vorgeführt“ wurde. Veranstaltet wurde die Schau von der Deutschen Kolonialgesellschaft (DKG), die mit Vorträgen und Propaganda koloniale Ideologien verbreitete. Ein prominentes Mitglied und von 1931 bis 1933 sogar deren Vizepräsident war Konrad Adenauer – Ex-Kanzler der Bundesrepublik Deutschland und Namensgeber des Rheinufers auf der Mainzer Flussseite.

Rassismus in der Wissenschaft
Nicht nur das Konrad-Adenauer-Ufer erinnert in Mainz an die koloniale Vergangenheit der Stadt. In der Neustadt tragen ein Platz und eine Straße den Namen des Mediziners Samuel Thomas von Sömmering. Eine Stele ehrt ihn seit 2009 als bedeutenden Wissenschaftler – verschweigt aber seine rassistischen Überzeugungen. Sömmering sezierte im 18. Jahrhundert die Leichen Schwarzer Menschen, die im sogenannten ‚Menschenzoo‘ im Kasseler Dorf Mulang lebten, berichtet Dr. Anna-Maria Brandstetter, Ethnologin und Mitorganisatorin der postkolonialen Stadtrundgänge in Mainz. Er stellte Theorien auf, die Schwarzen Menschen eine Nähe zum ‚Affengeschlecht‘ unterstellten – eine pseudowissenschaftliche Behauptung, die koloniale Herrschaftsideologien stützte. Dass dieser Teil seiner Biografie auf der Stele unerwähnt bleibt, kritisiert Brandstetter: „Denjenigen, die 2009 die Stele aufstellen ließen, erschien genau dieser Punkt nicht wichtig, obwohl alles längst bekannt und in wissenschaftlicher Literatur nachzulesen war.“ Die Grünen im Ortsbeirat Mainz-Neustadt haben bereits einen Antrag auf Änderung des Stelentextes gestellt. Da die Stelen spendenfinanziert sind, wird derzeit nach einer Finanzierungsmöglichkeit gesucht, so die Stadt Mainz auf Anfrage.

Der Behauptung, man müsse die Taten historischer Persönlichkeiten wie Sömmering im Kontext ihrer Zeit sehen, widersprechen die Organisator:innen der postkolonialen Stadtrundgänge in Mainz: Es sei klar, dass die Gesellschaft, in der wir leben, uns beeinflusse, „aber dieser Kontext rechtfertigt nicht Rassismus.“ Um das zu verdeutlichen, geht es in ihrem Stadtrundgang auch um die, die sich gegen rassistisches Gedankengut ausgesprochen haben. Georg Forster, ein Freund Sömmerings und Namensgeber der Forsterstraße in Mainz, vertrat ein humanistisches Menschenbild: „Die Menschen betrachtete er als grundlegend gleich und vor allem gleichwertig“, erklärt Brandstetter.

Noch heute relevant
Deutschlands koloniale Geschichte aufzuarbeiten und zu reflektieren, ist ein Anliegen der Organisatorin der Wiesbadener Stadtrundgänge Susanne Claußen. Sie bemängelt, dass der deutsche Kolonialismus „auch in der Schule lange gar nicht behandelt“ wurde. Dass koloniale Denkmuster nicht hinterfragt werden, zeigte sich zur Fastnacht 2023 im Biebricher Schloss. Zum Empfang des hessischen Ministerpräsidenten erschien eine Person in Blackfacing – also schwarz geschminkt – als „Mohr von Mörlau“, einer Symbolfigur der Ober-Mörler Fastnacht. Laut der Postkolonialen Stadtkarte Wiesbaden ist diese Praxis „eine symbolische Machtausübung, die stark gewaltvoll und rassistisch ist“. Blackfacing gehe „meist einher mit der Nachahmung von zugeschriebenem primitivem und dümmlichem Verhalten“ und verfestige rassistische Stereotype.

Zwar hat sich die Karnevalsgesellschaft entschuldigt und angekündigt, die Figur nicht mehr auftreten zu lassen – doch der Vorfall zeigt, wie dringend erforderlich eine kritische Auseinandersetzung mit kolonialer Geschichte ist. „Die allgemeine Geschichte wird meistens besser greifbar, wenn man sie gewissermaßen vor der eigenen Haustür entdeckt“, so Susanne Claußen. Wer Rassismus in der Gegenwart verstehen will, muss die kolonialen Wurzeln in der eigenen Stadt erkennen – und sie kritisch hinterfragen.

WTF
Nächster Stadtrundgang in Wiesbaden:
27. September, 15 Uhr, Dauer rund 90 min., Treffpunkt vor dem Kurhaus. Anmeldung bei kathrin.arroyo@wiesbaden.de
In Mainz finden die nächsten Führungen nach dem Sommer statt. Infos und Anmeldung unter: kunsthalle-mainz.de/rundgaenge/

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