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Mainz

„Raus, raus, raus nach Texas“

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Junge Freiheitssuchende aus Mainz suchen 1844 ihr Glück in der texanischen Ödnis – und stolpern von einer Katastrophe in die nächste. Über die kuriose Geschichte des Mainzer Adelsverein.

von Konstantin Mahlow

Der Dichter und Hochschullehrer Hoffmann von Fallersleben schreibt 1841 „Das Lied der Deutschen“. Wenige Jahre später veröffentlicht er eine heute kaum noch bekannte Sammlung: die „Texanischen Lieder“. Inhaltlicher Schwerpunkt der Texte ist die damalige Auswanderung aus Deutschland in das gelobte Land, dem eigentlich öden und trockenem Texas: „Raus, raus, raus und raus, aus Deutschland muss ich raus; ich schlag mir Deutschland aus dem Sinn und wand´re jetzt nach Texas hin. Mein Glück will ich probieren…“ Damit liefert er die musikalische Untermalung für eine Gruppe naiver Abenteurer, die in der texanischen Prärie eine neue Gesellschaft etablieren wollen. Eine treibende Kraft hinter dieser Idee ist der in Biebrich gegründete „Verein deutscher Fürsten und Edelleute zum Schutze deutscher Einwanderer in Texas“ – landläufig bekannt als „Mainzer Adelsverein“ oder „Texasverein“. Zwischen 1844 und ’49 gelangen durch dessen Vermittlung knapp 8000 Deutsche in den späteren US-Bundesstaat. Aber was haben sie dort verloren?

Was aus heutiger Sicht kaum vorstellbar scheint: In den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts war der junge und unabhängige Staat Texas ein Sehnsuchtsort für deutsche Demokraten und Freiheitskämpfer. 1836 erlangte er im Krieg gegen Mexiko seine Selbstbestimmung, während im alten Europa seit dem Wiener Kongress von 1814 die absolutistische Ordnung wiederhergestellt war und damit alle Hoffnungen auf Freiheit und Gleichberechtigung im Keim erstickt wurden. Der weitläufige Tenor: Was zu Hause nicht gelingt, kann zumindest jenseits des Atlantiks verwirklicht werden. So sprach etwa der Auswanderer und Autor Hermann Ehrenberg in höchsten Tönen von Texas, „den herrlichen Park, das Eldorado“ wo „der Landmann, ein König auf seinem eigenen Boden nicht mit den Herrschern Europas tauschen würde.“ Glühende Anhänger eines demokratischen „Neu-Deutschland“ im amerikanischen Südwesten waren ausgerechnet junge, adelige Offiziere in Mainz.

Sie waren überzeugt davon, eine eigene Demokratie ohne den Einfluss der USA gründen zu können, in der Recht und Freiheit herrschten. Gleichzeitig wollten sie den im Pauperismus verarmten Bauern und Handwerkern eine neue Perspektive aufzeigen. Eine halbe Millionen Menschen verließen die deutschen Nationen zu dieser Zeit in Richtung Neue Welt, um den erdrückenden Verhältnissen in der Heimat zu entkommen. Doch die jungen Offiziere, die die Freiheitskämpfe gegen Napoleon nur aus Erzählungen kannten und sich in der beschaulichen Garnisonsstadt Mainz die meiste Zeit langweilten, trieb noch etwas anderes an: Sie träumten von Ruhm und Macht auf Übersee; von unvorstellbaren Abenteuern, die sie berühmt machen würden. Erfahrungen in der Kolonialisierung von Landstrichen oder gar der Gründung ganzer Staaten hatte keiner von ihnen.

Auf die Initiative der Offiziere hin gründete sich am 20. April 1842 der Mainzer Adelsverein. Herzog Adolph von Hessen-Nassau übernahm als prominentestes Mitglied die Schirmvorherrschaft. Ihr Plan war simpel: Im weitgehend menschenleeren Südwesten wollten sie Land aufkaufen und an deutsche Siedler verteilen. In allen großen Zeitschriften inserierte der Verein seine „Bedingungen für Einwanderer“ und versprachen großzügig, die Kosten für der Übersiedlung, der ärztlichen Betreuung, Versorgung und Bildung zu übernehmen. Zudem sollte jede Familie Land von 130 Hektar Größe erhalten. Das hörte sich sprichwörtlich zu gut an, um wahr zu sein. Und tatsächlich: Als sich tausende Willige meldeten, besaß der Verein noch überhaupt kein Land, das er hätte verteilen können. Auch sollte plötzlich jede Familie 600 Gulden für den Transport zahlen. Der verarmten Schicht von Bauern und Handwerkern ohne Kapital wurden dadurch von Beginn an die Teilnahme verwehrt.

Der unter Druck geratene Verein lud zum Zweck des Landkaufs zwei Spekulanten aus Texas ein; einer von ihnen hieß Henry Fisher und stammte ursprünglich aus Kastel. Sie verkauften den adeligen Möchtegern-Kolonialisten die Siedlungsrechte für große Ländereien, in Texas „grants“ genannt. Der Verein verzichtete dabei auf jegliche Überprüfung der Angebote, sondern griff wie im Kaufrausch blind zu. Als erster Generalkommissar wurde der 33jährige Prinz Carl zu Solms-Braunfels ernannt, der später den Spitznamen „texanischer Don Quichotte“ erhalten sollte. Er machte sich zusammen mit einer kleinen Leibgarde aus deutschen Leutnants, die für ihre Trinkgelage bekannt waren, im Mai 44 nach Texas auf; im September fuhr das erste Schiff mit Auswanderern aus Bremen los. Was auf hoher See noch keiner ahnte: Die beiden vom Verein erworbenen grants waren für die Deutschen unerreichbar. Das eine Gebiet ging aus unbekannten Gründen schon vor Solms Ankunft an den texanischen Staat zurück, das andere lag tief im Land der berüchtigten Comanchen. Die Spekulanten hatten die Leichtgläubigkeit ihrer Geschäftspartner schamlos ausgenutzt.

Die feinen Herren aus Mainz irrten in den Folgemonaten auf der Suche nach einem geeigneten Stück Land durch die texanische Wildnis . Von den ansässigen Siedlern wurde sie wohl auch aufgrund ihres prätentiösen Auftretens ausgelacht, von der so gelobten Regierung in Texas gab es keine Hilfe. Solms musste handeln. Er erwarb zwei Ländereien, eine nannte er „Karlshafen“, die andere am Guadalupe River „Fort Sophienburg“ Das Fort, das eigentlich nur eine Holzhütte war, gründete er zusammen mit der Stadt Neu-Braunfels am 18. März 1845. Nur drei Tage später erreichten 500 Siedler die provisorische Siedlung. Es schien voran zu gehen; doch der Prinz bewies in der Folgezeit, dass es ihm an jeglicher Kompetenz für den Aufbau und der Organisation einer Siedlung fehlte. Er gab das gesamte Vereinsgeld für die Versorgung der Siedler aus und machte dazu noch Schulden. Seine Buchführung versank im Chaos, Solms immer häufiger in den mitgebrachten Weinfässern.

Schon wenige Wochen später verließ er Texas wieder in Richtung Europa. Während der Rückreise wurde er in New Orleans von einem seiner Gläubiger festgehalten. Sein Nachfolger, Otfried Hans Freiherr von Meusebach, musste ihn erst mit der immensen Summe von 10 000 Dollar freikaufen. In Mainz hatte sich der Verein derweil in eine Aktiengesellschaft gewandelt. Kurioserweise stuften die Mitglieder die bisherigen Entwicklungen als Erfolg ein und beschlossen, die Investitionen zu erhöhen. Ende des Jahres wurden dank einer deutlichen Aufstockung des Startkapitals weitere 28 Schiffe mit mehr als 4000 Siedlern auf den Weg geschickt. Meusebach war davon wenig begeistert, die finanzielle Schieflage des Vereins hatte er längst bemerkt und angemahnt. Doch aus Deutschland kamen nur Menschen und kein frisches Geld. Vergeblich versuchte er, vor Ort Kredite zu erwirken. Und es kam noch schlimmer: Am 29. Dezember 1845 wurde Texas in den Vereinigten Staaten aufgenommen.

Der Traum von einem selbstständigen „Neu-Deutschland“ hatte sich damit endgültig erledigt. Doch die tausenden Auswanderer kamen trotzdem an. Der Verein wollte unbedingt eine Quote einhalten, die sie anfangs mit Fisher vereinbart hatten und nach der 2000 Familien bis März 1846 nach Texas kommen sollten. Doch Meusebach fehlten immer noch die finanziellen Mittel, um die Menschen nach Neu-Braunfels zu transportieren. Stattdessen entstanden um die Landungsstellen an der Küste Elendslager, in denen die Siedler unter Zeltplanen und in Erdlöchern ausharrten mussten. Die Folge war eine humanitäre Katastrophe: Hunderte starben im feuchten Frühling an Seuchen und Hunger, bis sich Meusebach, dessen Hilferufe vom Verein ignoriert blieben, im Sommer 1846 zu einem verzweifelten Marsch nach Neu-Braunfels entschloss. Unter weiteren Verlusten schafften sie es tatsächlich, dort anzukommen. Ein Teil blieb in der schnell wachsenden Stadt, ein weiterer Teil zog weiter zum versprochen grant im Comanchen-Gebiet. Es ist eine der vielen Anekdoten in dieser Geschichte, dass es Meusebach gelang, mit dem Stamm einen Friedensvertrag auszuhandeln – der einzige in der amerikanischen Geschichte, der nie gebrochen wurde. Auf dem Land gründete er die Stadt Fredericksburg.

Die deutsche Presse, die von dem Massensterben mittlerweile erfahren hatte, kritisierte den Verein scharf und attackierte „die adeligen Herren, die mit deutschem Blute dunkle Geschäfte machen.“ Bald darauf, 1848, erklärte der Verein seine Zahlungsunfähigkeit und löste sich auf. Er scheiterte letztendlich an der texanischen Wirklichkeit und der eigenen Selbstüberschätzung. Rund 1000 Siedler mussten für die Unfähigkeit der jungen Offiziere mit dem Leben zahlen, doch die Deutschen hinterließen auch etwas: Neu-Braunfels und Fredericksburg entwickelten sich mit der Zeit zu blühenden Städten. Geschätzt 10 000 Nachfahren der Auswanderer sprechen heute noch „Texas-Deutsch“, auch wenn ihre Zahl jährlich kleiner wird.

So auch in der Gemeinde Mentz, ehemals Neu-Mainz, gegründet 1846 von Auswanderern aus Rheinhessen. Nicht mal mehr hundert Menschen leben hier, irgendwo im texanischen Niemandsland. Was auch immer ihre Vorfahren dort verloren hatten.

Foto: Pexels // Yigithan Bal

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