Lade

Tippen zum Suchen

Gesellschaft

Das Stresstoleranzfenster

Teilen

Das Stresstoleranzfenster ist ein Modell, mit dem sich unser Gemütszustand beschreiben und erklären lässt. Ursprünglich wurde es nur auf das Verhalten von Säuglingen angewendet, kann aber auch Erwachsenen dabei helfen, sich besser zu verstehen und zu steuern.

von Hannah Maertin

Selbstregulation und wie wir sie verlieren
Befinden wir uns innerhalb des Stresstoleranzfensters, haben wir weder zu viel noch zu wenig Stress. Wir sind weder überanstrengt noch gelangweilt und können unseren emotionalen Zustand selbstständig regulieren. Das heißt, unangenehme Gefühle, Herausforderungen und an uns gestellte Aufgaben können angemessen bewältigt werden. Dieser für uns optimale Zustand wird von zwei Faktoren bedingt. Zum einen hängt er davon ab, welchen Reizen wir ausgesetzt sind. Ist es laut, heiß, stickig und beengt, kann nur ein einziges Wort zu viel sein und uns zum Ausrasten bringen. Der Grund: Das Übermaß an Stress lässt uns die Kontrolle über unsere Emotionen verlieren. Wir werden wütend, laut und ausfallend. Es gibt aber auch Situationen, in denen wir unterfordert und gelangweilt sind. Die mangelnde Stimulation von außen führt dann dazu, dass unsere Emotionen erschlaffen. Wir fühlen uns leer, unmotiviert, träge, paralysiert und sind nicht in der Lage, unseren Alltag zu bewältigen. Selbst Dinge, die uns normalerweise Spaß machen, sind uns dann zu viel. Von der Beschaffenheit der äußeren Welt wird unser Stresstoleranzverhalten also maßgeblich bedingt. Es hängt aber auch – und damit kommen wir zum zweiten Faktor – davon ab, wie es um unsere mentale Verfassung bestellt ist. Sind wir verkatert, unausgeschlafen oder in hormonell oder psychisch bedingten Krisen, ist unser Stresstoleranzfenster kleiner, als wenn wir erholt, ausgeglichen und gut gelaunt sind.

Das Stresstoleranzfenster in der Säuglingsbeobachtung
Bei Säuglingen kann das Modell des Stresstoleranzfensters folgendes Verhalten beschreiben: Beim Verspüren von Hunger, Durst oder anderen dringlichen Bedürfnissen steigt der Stresspegel des Kindes an. Es verlässt das Stresstoleranzfenster, schreit und strampelt, um auf seinen Zustand aufmerksam zu machen und jemanden dazu zu bewegen, sich um das Problem zu kümmern. Im Idealfall kommen die Eltern zu Hilfe, sodass sich der Zustand des Kindes wieder im Bereich des Stresstoleranzfensters einpendelt. Im schlimmsten Fall kommt niemand. Der Stresspegel des Kindes steigert sich dann in traumatische Extreme, es empfinden Panik, Verlassenheitsangst und sogar Todesangst. Sie schreien so lange, bis sie keine Kraft mehr haben und in einen Erschöpfungsschlaf fallen. Bei Erwachsenen verläuft dieser Prozess ähnlich: Auch sie fallen von einem emotionalen Extrem ins andere, wenn sie zu lange einem zu großen Maß an Stress ausgesetzt waren. Anstelle eines Erschöpfungsschlafes geraten sie in den oben beschriebenen, paralysierten Zustand. Dieser kann einer Depression sehr ähnlichsehen, ist aber eigentlich das Ergebnis einer überstimulierenden Lebensweise.

Mehr Raum schaffen
Um langfristig angenehme Gefühle zu haben, produktiv und ausgeglichen zu sein, muss man dafür sorgen, dass das eigene Stresstoleranzfenster möglichst groß bleibt. Der Stress kann uns dann – egal, ob es zu viel oder zu wenig davon gibt – nicht so leicht aus dem Gleichgewicht bringen. Eine beliebte Maßnahme ist der Wein am Abend, der unsere Stresstoleranz zu steigern scheint. Auf lange Sicht schlägt diese Wirkung aber in ihr Gegenteil um, denn Alkoholkonsum lässt das Stresstoleranzfenster in den nachfolgenden Tagen schrumpfen. Um sich langfristig mehr Raum zu verschaffen, sollte man Tätigkeiten bevorzugen, die nicht nur für den Moment, sondern auch zukünftig gute Gefühle erzeugen. Alle anderen Aktivitäten, die entweder zu viel oder zu wenig Stimulation bringen, sollten weggelassen werden. Je seltener man das eigene Stresstoleranzfenster verlässt, desto mehr wächst es nämlich an. Konkrete Maßnahmen könnten sein: den Job kündigen, ein Amt niederlegen oder eine toxische Beziehung beenden sowie stundenlanges Fernsehen und das geistlose Scrollen auf Social Media sein zu lassen. Je länger man sich im idealen Bereich bewegt, desto bessere Fähigkeiten im Umgang mit sich und der äußeren Welt entwickelt man. Der Anfang einer solchen Entwicklung besteht also darin, in sich hineinzuspüren und herauszufinden, welche Dinge weggelassen und welche vielleicht hinzugefügt werden sollten.

Foto: Matthew Henry

Tags
Nächster Artikel

Dies könnte auch interessant sein