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Gesellschaft

Ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben

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Mit diesem Slogan zog die CDU im Herbst in den Bundestagswahlkampf. Wir waren einen Nachmittag in der Mainzer Altstadt unterwegs und haben zwei Menschen getroffen, die auf der Straße betteln müssen, da ihnen das Geld nicht bis zum Ende des Monats reicht. Wie gut leben sie in Deutschland?

Mitten auf der Mainzer Bahnhofstraße vor einem Dönerladen sitzt Feisal. In einem bunten Glitzerhut, den er vor sich aufgestellt hat, liegen bereits einige Münzen. Er zieht an seiner Zigarre und bläst den Rauch in die kalte Luft. Für ein Interview hat Feisal zunächst keine Zeit, denn er muss dringend noch etwas Geld verdienen. Zwei Stunden später dürfen wir uns dann zu ihm setzen, und er beantwortet knapp aber höflich unsere Fragen. Feisal ist Mitte fünfzig, arabischer Herkunft, übergewichtig, hatte nicht das Glück, eine Ausbildung absolvieren zu können, und die Behörden haben ihn für berufsunfähig erklärt. Dies sind Attribute, die es in dieser Kombination nahezu unmöglich machen, in Deutschland eine Arbeit zu finden, und Feisal auch an den kältesten Winternachmittagen auf die Straße zwingen. Denn das wenige Geld, das er vom deutschen Sozialstaat monatlich überwiesen bekommt, reicht zum Überleben nicht aus.

Kriminalität oder Betteln
Seine Wohnung wird bezahlt, für alle anderen Lebenserhaltungskosten bleiben Feisal aber gerade einmal 50 Euro pro Woche. Mehr gibt seine Berufsunfähigkeitsversicherung nicht her. Dabei würde er sehr gern selbst für sein Einkommen sorgen, erklärt der Vater eines 19-jährigen Sohnes. „Putzen, Kleidung waschen, im Servicebereich arbeiten oder kochen – Hauptsache Arbeit.“ Auf seine letzte Bewerbung im Ein-Euro-Shop bekam Feisal nicht einmal eine Rückmeldung. „Ohne Kontakte keine Chance“, sagt er ernüchtert. Hinzu kommt sein Alter. „Mit über 50 bin ich nicht mehr der Jüngste. Für die Arbeitswelt ist das zu alt.“ Was tun, wenn das Geld zum Leben einfach nicht reicht? Kriminalität oder Betteln. Die Entscheidung, auf die Straße zu gehen, traf Feisal vor allem aus Mangel an Alternativen. Eine aussichtslose Situation, die ihn aber nicht vom Träumen abhält. „Ich würde mich gern privatisieren. Eine Diskothek für jung und alt eröffnen, das wäre mein Ding.“ Hierzu fehlt es aber natürlich an Startkapital. Seine einzige Hoffnung sind die wenigen Lottoscheine, die er sich gelegentlich leistet. Zum Abschied möchte Feisal aufstehen. Mühevoll bringt er seine Beine langsam in Position. Die Gliedmaßen sind vor lauter Kälte völlig steif gefroren. Über eine Minute braucht er allein, um sich umzudrehen. Das Ringen dieses Mannes auf der kalten Straße verursacht bei uns Unbehagen. Sollen wir ihm aufhelfen oder möchte er es alleine schaffen? Die Situation löst sich auf, als ein Passant im Vorbeigehen Feisal schnell packt und ihm auf die Beine hilft.

„Ich bin gesellschaftlich komplett ausgeschlossen“
Timo, den wir ebenfalls beim Betteln in der Mainzer Fußgängerzone kennengelernt haben, hat uns zu sich nach Hause eingeladen. Wir treten in seine kleine, schlicht eingerichtete Sozialwohnung ein und er bietet uns einen Fertigcappucino an. „Für einen richtigen Kaffee reicht es leider nicht.“ Als wir auf seiner Schlafcouch Platz nehmen, beginnt er von seiner beruflichen Laufbahn zu erzählen. Der 57-Jährige hat zunächst als Schreinergeselle gearbeitet, bis er durch den Verlust dreier Finger zum Bürokaufmann umschulen musste. Als solcher sei er recht erfolgreich gewesen, weshalb er bei der Deutschen Bahn sogar eine Ausbildereignung erlangte. „Ich war für die Transportrechnungen zuständig, hatte mein eigenes Büro, konnte mir Kleidung leisten und in den Urlaub fahren“, erinnert er sich. Darüber hinaus engagierte er sich politisch bei den Grünen. Im Alter von 55 Jahren kam dann die Kündigung aufgrund von Einsparmaßnahmen. Timo berichtet, er habe ein Jahr Zeit gehabt, nach einer neuen Arbeit zu suchen. Trotz mehrfacher Weiterbildungen und Bewerbungen für Nebenjobs war jedoch kein Arbeitgeber dazu bereit, ihn einzustellen. „Mit 55 Jahren gilt man auf dem Arbeitsmarkt als alt. Niemand möchte in so einen wie mich investieren.“ So ist ihm nichts anderes übrig geblieben, als Hartz IV zu beantragen.
Seit seiner Arbeitslosigkeit ist der gesellige Mann zum Einzelgänger geworden. „Für kulturelle Teilhabe bleibt kein Cent übrig“, beklagt der leidenschaftliche Leser. „Ich bin gesellschaftlich komplett ausgeschlossen“. Das Geld reicht gerade so aus, um zu essen und zu wohnen. Timos Leben ist ein Ringen um das bloße Überleben. Im Sommer musste er eine neue Brille kaufen. „So kommt es dann zu dieser Situation, dass ich auf der Straße sitze und wirklich nur um Geld für etwas zu Essen bettle.“ Dies ist nicht jeden Monat der Fall, doch sobald eine neue Hose oder ein paar Schuhe nötig sind, bleibt ihm keine Wahl. „Man kommt sich nackt vor beim Betteln. Das ist sehr erniedrigend.“

Zum Amt nur mit Psychosozialbetreuer
Auch die obligatorischen Besuche beim Jobcenter bringen Schwierigkeiten mit sich. Jeder Amtsbesuch ist eine emotionale Tortur. Ohne seinen psychosozialen Betreuer mit juristischem Staatsexamen wagt er sich nicht mehr zum Gespräch mit seiner Sachbearbeiterin. „Ich muss immer mit einem Anwalt zum Amt gehen, um den Zuständigen nicht die Möglichkeit zu geben, mir das Wort im Mund umzudrehen.“ Dies könnte nämlich zu empfindlichen Leistungskürzungen führen. „Zum Beispiel wurde mir einmal unterstellt, ich hätte in meinem Nebenjob 800 Euro zusätzlich verdient“, erzählt der 57-Jährige. Tatsächlich kamen bei seinem Stundenlohn von 2,30 Euro nicht mal 120 Euro zusammen. „Ich musste trotzdem zwei Monate darum kämpfen, wieder den vollen Satz zu bekommen. Das nennt man Willkür.“ Auch für die Tätigkeit des Bettelns versucht das Jobcenter, die monatliche Zuwendung zu kürzen, wie der Fall eines Dortmunder Hartz-IV- Empfänger zeigte. Beim Betteln erwischt, wurde ihm der Satz um 90 Euro gekürzt und seither muss er ein Ein- und Ausgabenbuch führen, sonst droht ihm die komplette Einstellung der Geldleistungen. Das wirft die Frage auf, wieso hierfür ein derartiger behördlicher Aufwand betrieben wird, während gleichzeitig großzügig an der Besteuerung von Kapitalerträgen gespart wird. Geht es wirklich um 90 Euro oder handelt es sich hier um bloße Schikane?
Aus Erfahrungen mit anderen Hartz IV-Empfangenden berichtet Timo, dass es nicht nur ihm so geht. Soziale Gerechtigkeit sieht er in diesem Land nicht. Er findet, eine gerechtere Sozialpolitik wäre die Lösung. Der Hartz IV-Satz müsse angehoben werden, damit jeder an der Gesellschaft teilhaben könne. „Wir müssen die Verlierer dieser Gesellschaft durch Steuergesetze und Integration mitnehmen. Sonst greift sie die AfD ab“, warnt der Demokrat. Gerade im sozialen Bereich sieht er Potential für zusätzliche Arbeitsstellen. Persönlich hat er die Hoffnung auf eine neue Arbeit trotz seiner vielen Bewerbungen aufgegeben. „Ich wünsche mir ja gar keinen Luxus. Am wichtigsten ist mir mehr Gesellschaft und nicht mehr so viel allein zu sein.“

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