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Was kreucht und fleucht im STUZ-Gebiet? Wilde Tiere vor der Haustür, Teil 16: die Haus- und Wanderratte

von Konstantin Mahlow

„Langsam hob sich der Stein, emporgestemmt von massigen, versengten und zerschundenen Schultern, und ein Strom brauner Leiber quoll durch die erweiterte Öffnung in den Schnee hinaus. Wir stierten ringsum: Aus einem Dutzend Gräbern kamen Ratten hervor und schlossen um uns einen Kreis.“ So beschreibt der Schotte Colin McLaren in seinem 1978 erschienenen Kultroman „Rattus Rex“ eine unserer ältesten Ängste: Die Invasion der Ratten. In Unterzahl keine Gefahr, scheint sich in ihnen das Potenzial zu verbergen, in großen Gruppen den Menschen überwältigen zu können. Spoiler: Der Schein trügt, Geschichten wie McLarens sind fraglos im Reich der Phantasie anzusiedeln. Doch die grundsätzliche Frage bleibt: Können Ratten gefährlich für uns sein?

Als Plage verschrien

Der Mensch weiß nicht so recht, wie er die Vierbeiner finden soll. Manche hassen und fürchten sie als Plagegeister und Krankheitsüberträger. Vor allem, wenn sie den eigenen Keller besiedeln. Wir schrecken mit einem unwohlen Alarmgefühl auf, wenn zwei fette Exemplare aus der Mülltonne springen, in die wir gerade ihren Essensnachschub werfen.

Die Geschichte vom Rattenfänger von Hameln ist eine der am häufigsten erzählten Sagen. Und sie beginnt damit, dass die Stadt von einer Rattenplage befallen ist – nicht damit, woher diese überhaupt kamen. Der Gedanke, dass Ratten Probleme bereiten, scheint normal für uns; einen besonderen Anlass braucht es nicht. Und das ist wohl schon so, seit die ersten Hausratten (Rattus rattus) im 2. Jahrhundert aus Ostasien als blinde Passagiere auf Schiffen nach Europa kamen.

Treue Fangemeinde

Doch die Ratte hat auch Fans, und nicht zu wenige. Sie wird geliebt als „der Hund des kleinen Mannes“. Also als ein unkompliziertes Haustier, das noch jeder Bürosklave über die Runden bringt. Der SPIEGEL fand schon 1984 heraus, dass die Ratte mittlerweile ihren schlechten Ruf verlieren und gut ankommen würde: „bei Kindern als Spielgefährte, bei Punks als Maskottchen, bei Künstlern als Kulttier.“ Besagter Kult machte sich vor allem in der Literatur breit: Neben „Rattus Rex“ haben auch Thomas Pynchons „V“ und William Kotzwinkles „Dr. Ratte“ die kahlschwänzigen Nager in den Mittelpunkt gestellt. Später waren Ratten so etwas wie die Wappentiere der No-Future-Generation. Jeder kannte die eine Person im Freundeskreis, die gerne ihre Zimmerratte auf der Schulter mit sich trug.

Bad Fell Day

Ebenso wie sich für einen Teil der Menschheit das Verhältnis zu den Tieren gewandelt hat, so hat sich auch in der Natur seit der Plage in Hameln einiges verändert. Die vom Rattenfänger noch herbeigepfiffenen Hausratten stehen heute auf der Roten Liste und werden im STUZ-Gebiet kaum noch registriert. Sie wurden von der etwas größeren und aggressiveren Wanderratte (Rattus norvegicus) verdrängt. Die ebenfalls aus Ostasien stammenden Nager erreichten Europa erst im 18. Jahrhundert.

Bis zu einem knappen Pfund wiegt die Wanderratte bei einer Kopf-Rumpf-Länge von maximal 30 Zentimetern. Ihre gräuliche Fellfarbe und das oft schmutzig wirkende Erscheinungsbild runden für viele Zweibeiner das angsteinflößende Image der Wanderratte ab. Entlang des Rheins, der Grünanlagen und Ufertreppen sind sie kaum übersehbar. Als problematisch gilt die Population aber noch nicht. Eine größere Plage herrschte noch vor zwei Jahren in einer Bretzenheimer Wohnsiedlung.

Egal ob Haus- oder Wanderratte, ob in Hameln, London, Mainz oder Wiesbaden – wie gefährlich sind sie nun? Immerhin waren sie es, die 1347 die Pest einschleppten und so ein Viertel der europäischen Bevölkerung auslöschten. Und auch heute stellen sie als Überträger von Erregern ein Risiko für Menschen dar. Über hundert verschiedene Krankheiten können durch den Biss einer Ratte übertragen werden, darunter auch die fiese Leptospirose, die bei Menschen wie Hunden unbehandelt tödlich enden kann. Vorsicht ist also geboten, aber würden Ratten auch weiter gehen? In Brehms Tierleben, erschienen ab 1863, liest man von „verbürgten Beispielen, dass sie kleine Kinder bei lebendigem Leibe angefressen haben.“ 2020 hieß es in einem Bericht im Tagesspiegel über das Flüchtlingslager auf Lesbos: „Babys werden in nassen Zelten von Ratten gebissen.“

Wie gefährlich Ratten für uns werden können, hängt letztendlich vom Menschen und seinen Hygienemaßnahmen ab. Doch ob man sie liebt oder hasst – unterschätzen sollte man sie nicht.

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