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Kultur

Vera in der Manege

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Staunend blickt Vera Ruzhentcova auf das Schauspiel im Zirkuszelt, umringt von Menschen, die es ihr gleich tun. Sie ist sechs Jahre alt und weiß genau, was sie einmal werden möchte: Zirkusartistin. Der Weg zum Ziel hält für Vera viele Höhen und Tiefen bereit.

von Nathalie Klump

Heute ist Zirkusartistin Vera Ruzhentcova 28 Jahre alt und lebt ihre Leidenschaft. Ihre Geschichte beginnt in Russland, wo von klein an Kunst und Sport ihren Alltag bestimmen. Ihre Familie ist durch und durch musikalisch veranlagt, denn Vater, Mutter und Bruder haben das Klavierspielen zu ihrem Beruf gemacht. Mit sechs Jahren besucht Vera zum ersten Mal mit ihrem Vater einen Zirkus, der sie sofort in den Bann zieht; von diesem Zeitpunkt an richtet sie ihr Leben genau danach: die Lichter, die Musik, die Eleganz der auftretenden Künstler. Dieser Traum, einmal eine Akrobatin zu werden, lässt sie nicht los. Immer, wenn sie ihre Familie Klavier spielen hört, träumt sie von passenden Kunststücken und Performances in den Höhen der Zirkuskuppel.

Sie verbringt ihre Freizeit zuerst im Ballettverein, bis sie mit rhythmischer Gymnastik fortfährt. Mit elf Jahren geht es nach der Schule täglich in die Ballettakademie in Moskau. Sie merkt aber schnell, dass Ballett nicht das ist, wonach sie sich wirklich sehnt und verlässt die Akademie mit 14 Jahren. Nun konzentriert sie sich erst einmal auf die Schule. Was sie von ihrer Zeit in der Akademie mitgenommen hat, sind ihre Französischkenntnisse, die ihr auch im Linguistikstudium weiterhelfen.

Mit 19 Jahren stößt Vera zufällig auf ein kleines Luftakrobatikstudio und beschließt, ihre Sehnsucht nach der Manege hier auszuleben, um für eine Zukunft im Zirkus zu trainieren. Ab diesem Moment wird der Reif zu ihrem besten Freund. Sie trainiert neben ihrem Studium, das sie mit einem Bachelor abschließt, am Reif ihre Akrobatik und perfektioniert ihre Technik.

Ihr Training zahlt sich aus und endlich schafft sie es, ihr erstes Engagement in einem staatlichen Zirkus zu ergattern. Drei Jahre verbringt Vera dort und verdient ihr eigenes Geld in ihrem Traumberuf: „Das war keine Arbeit. Das war mein Leben“. Sie lebt in den kleinsten Wohnungen, aber das ist ihr egal, denn am Abend geht es wieder in die Manege. Ihr Einkommen ist gering, doch es funktioniert, und mehr braucht sie nicht, denn der Zirkus ist der Ort für sie, an dem sie sich verwirklicht. Blaue Flecken, Schulter- und Fußverletzungen, das alles gehört bei einer Artistin zum Alltag, ebenso wie das Lächeln auf den Lippen zu behalten, egal wie sehr es auch schmerzt – denn es ist essentiell, „so mit dem Publikum zu sprechen“, erklärt die Luftakrobatin.

Veras Körper kommt an seine Grenzen. Das Training hat Spuren hinterlassen, eine Operation am Fuß ist notwendig. Wochenlang kann sie nur sehr begrenzt bis gar nicht trainieren und muss auf das verzichten, was sie am meisten erfüllt. „Seelisch hat mir das zu schaffen gemacht“, erzählt sie. Obwohl ihr Fuß langsam heilt, fällt es ihr schwer, in ihren Alltag zurückzukehren. Vera, mit all ihrem Ehrgeiz, meistert auch das. Sie trainiert fünf bis sechsmal in der Woche. Manchmal ist es Krafttraining im Fitnessstudio, manchmal Luftakrobatik am Reif.

Mit 25, vor drei Jahren, beginnt für Vera ein neues Leben, sie zieht nach Deutschland. Vera vermisst zwar ihre Heimat und ihre russische Zirkuswelt sehr, doch ihre Mutter lebt in Gustavsburg, und für sie ist Familie das Wichtigste, auch wenn sie den Zirkus dafür verlassen muss. In Deutschland wird Luftakrobatik leider nicht als Kunst wertgeschätzt, und mit ihren Auftritten allein kann sie ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten. Doch ihr Traum bleibt Wirklichkeit. Das Erste, was sie in Mainz sucht, ist ein Studio, in dem sie ihrer Luftakrobatik nachgehen kann. Gleichzeitig weiß Vera, dass ein Beruf mit festem Einkommen wichtig ist. Daher macht sie in Budenheim eine Ausbildung zur Fitnesstrainerin.

Sie lässt es sich auch nicht entgehen, an verschiedenen Luftakrobatik-Meisterschaften teilzunehmen. Während diese Meisterschaften als Wettbewerbe organisiert sind, betrachtet Vera das Ganze vom künstlerischen Blickwinkel aus. „Ich sehe einen Trick, den ich schön finde, und will den machen“. Sie eignet sich immer wieder neue Kunststücke und Showelemente an, bis sie diese perfektioniert hat. Vera macht „keine halben Sachen“.

Für sie ist Luftakrobatik mehr als ein Sport – es ist eine Kunst, mit der sie eine Geschichte erzählen und eine Verbindung zum Publikum aufbauen kann. Eine Geschichte über Selbstfindung und Selbsterkenntnis erzählt sie auch bei den „Aerial Art On Fire“ Meisterschaften 2023, bei der sie den ersten Platz belegt.

Vera macht klar: „Wir leben nur einmal und sollten immer machen, was Spaß macht“. Mit Luftakrobatik ist sie bei weitem noch nicht fertig. Im November ist sie beim Zirkusprojekt Flip in Mainz aufgetreten und hofft bald, ein Engagement als Zirkusartistin finden zu können.

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