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Die Reh-Migration

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Ein Rehbock im hohen Gras

Was kreucht und fleucht im STUZ-Gebiet? Wilde Tiere vor der Haustür, Teil 44: Das Reh

von Konstantin Mahlow

Wenn es in der rheinhessischen Hügellandschaft überhaupt Tiere gibt, die einen auf einer Wanderung wirklich erschrecken können, dann Rehe. Nicht unbedingt, wenn sie auf einer weit entfernten Weide stehen und wie Bambi friedlich vor sich hin grasen. Sondern wenn sie unvermittelt aus der Hecke geschossen kommen und mit panischen Augen über den Weg rasen. Viele Stadtmenschen erleben dann zum ersten Mal die körperliche Anmut und enorme Energie eines ausgewachsenen Rehs, das mit seinen 30 Kilo plötzlich nicht mehr so klein und zart wirkt wie aus dem Zugfenster betrachtet. Tatsächlich sind Rehe zusammen mit Wildschweinen die zwei großen, jagbaren Wildarten, die längst den dunklen Wald, in dem sie sowieso nie leben wollten, in Richtung Zivilisation verlassen haben.

Das Reh (Capreolus capreolus) ist die kleinste und zugleich häufigste Hirschart Europas und auch im STUZ-Gebiet flächendeckend verbreitet. Ursprünglich bewohnte die Art Waldränder und -lichtungen, Auen und Riede, hat sich über die Jahrhunderte aber an die veränderte Kulturlandschaft angepasst. Heute bevorzugen sie Laub- und Mischwälder, die sich mit Agrarflächen abwechseln. In diesem Mosaik aus offenen und bewachsenen Landschaften haben sie seit der Industrialisierung riesige Populationen bilden können: 2,5 bis 3 Millionen Tiere leben heute trotz hoher Bejagung in Deutschland. Und obwohl sie als scheu und zurückgezogen gelten, besiedeln sie auch immer stärker die Randzonen von Städten, größere Parks oder sogar baumlose Agrarsteppen, zu denen man Rheinhessen getrost zählen kann. In den Weinbergen reichen den standorttreuen Tieren offenbar die nur wenige Meter breiten Heckenstreifen, um ausreichend Unterschlupf zu finden. In Mainz kommen sie beispielsweise auf den Auenwiesen an der Autobahnbrücke bei Weisenau erstaunlich nah an das menschliche Großstadttreiben.

Rehe leben im Winter in Gruppen zusammen, die „Sprünge“ genannt werden. Ein Sprung Rehe löst sich bis zum Mai wieder auf, wenn die Geburt der als „Kitze“ bezeichneten Jungtiere kurz bevorsteht. Besonders die heute als Feldrehe bekannten Tiere der Agrarlandschaft leiden in dieser Phase verstärkt unter dem Einsatz landwirtschaftlicher Maschinen wie Mähdreschern, die die im Feld versteckt liegenden Kitze töten können. Landwirte sind daher verpflichtet, rechtzeitig Maßnahmen zur Wildrettung zu ergreifen. Bisweilen geschieht das über den Einsatz von speziellen Drohnen mit Wärmebildkameras, die oftmals nicht von den Landwirten selbst, sondern von örtlichen Jägern und Freiwilligen bedient werden. Da in der Technik offensichtlich das größte Potenzial zur Rettung von Wildtieren steckt, fördert das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft alljährlich die Anschaffung solcher Drohnen. Schließlich ist auf der einen Seite nichts so niedlich wie ein rostbraunes, weiß-gepunktetes und kulleräugiges Kitz und auf der anderen nichts so grausam wie die Vorstellung, wie es von einem Mähdrescher lebendig zerhäckselt wird.

Aber Rehe sind auch Auslöser kontroverser Debatten: Sie sind als Waldschädlinge in Verruf gekommen, da sie als reine Vegetarier gerne junge Triebe und Blätter fressen. Damit stören sie vermeintlich die gesunde Entwicklung des Waldes, der als CO2-Speicher von größerer Bedeutung denn je ist, und werden auf Grundlage dieses Arguments massiv bejagt. Die jährliche Strecke beläuft sich hierzulande auf unglaubliche 1,3 Millionen Tiere. Doch Biologen sehen darin einen Teufelskreislauf: Die eigentlich an offene Landschaften angepassten Rehe ziehen sich überhaupt erst wegen dem Jagddruck tiefer in die Wälder zurück, wo sie gezwungen sind, zu essen, was sie vorfinden – und so für mehr Verbiss sorgen. Und tatsächlich kann die Jagd für die Jäger ganz unabhängig vom Schaden auch ob des hervorragenden Fleisches äußerst lukrativ sein. Rehfleisch ist biologisch, zugegebenermaßen extrem schmackhaft und dazu noch weniger belastet als etwa das Fleisch von Wildschweinen. Im Gegensatz zu denen fressen sie nämlich viel seltener Pilze, die in deutschen Wäldern immer noch durch die Tschernobyl-Katastrophe radioaktiv belastet sind.

Im eher waldarmen Rheinhessen plagt die Winzer dagegen ein anderes Problem: Besonders in kühleren Frühjahren knabbern die Rehe mit Vorliebe die jungen Triebe der Reben ab, unabhängig von der jeweiligen Sorte. Doch für jeden anderen ist es immer ein besonderer Moment, eine Gruppe von Rehen auf den sonst so leblosen Weinbergen zu erspähen. Wenn sie kauend und mit gespitzten Ohren unseren Blick durch die Rebstöcke hindurch erwidern, strahlen sie nicht selten eine beruhigende Aura aus, die der Welt eine fragile Unschuld verleiht. Und uns hoffen lässt, dass kein Jäger in der Nähe ist.

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