Der falsche Papagei
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Was kreucht und fleucht im STUZ-Gebiet? Wilde Tiere vor der Haustür – Teil 4: der Halsbandsittich
von Konstantin Mahlow
Ältere Semester dürften sich noch daran erinnern: Aus ganz Mainz und Wiesbaden zog es die Menschen einst in den Biebricher Schlosspark, um die exotischen Attraktionen in den Baumwipfeln zu erspähen: Wilde Papageien, genauer: Halsbandsittiche, die sich seit Ende der Sechziger Jahre in der Grünanlage angesiedelt hatten. Heute muss man die eigenen vier Wände kaum noch verlassen, um die bunten Vögel zu beobachten. Halsbandsittiche haben sich in den meisten Stadtteilen links und rechts des Rheins ausgebreitet und sind längst fester Bestandteil unserer Fauna. Schließlich wird modernes Entertainment, ob Netflix, Pizza oder Papageien, sowieso bevorzugt vom Sofa respektive Balkon aus konsumiert. Kaum einen überrascht es noch, wenn die Sittiche grüppchenweise am Fenster vorbei fliegen und dabei ihre einigermaßen schrecklich anzuhörenden Laute von sich geben. Und nicht wenige fragen sich, ob es nicht zuviel des Guten ist.
Denn Halsbandsittiche zählen zu den sogenannten Neozoen – also zu den Arten, die sich mit Hilfe des Menschen fernab ihrer eigentlichen Heimat in neuen Lebensräumen angesiedelt haben. Halsbandsittiche (Psittacula krameri) kommen ursprünglich in Afrika südlich der Sahara und auf dem indischen Subkontinent samt angrenzender Länder vor. Nicht gerade ein Katzensprung und erst recht kein Papageienflug von Wiesbaden entfernt. Um 1969, im Sommer der Liebe, wurden einige Papageienbesitzer wohl dermaßen von der Aufbruchsstimmung in eine freie Zukunft übermannt, dass sie kurzerhand ihren Schützlingen eben diese schenkten. Oder sie sind von alleine aus den Volieren ausgebüchst; so ganz ist das heute nicht mehr nachvollziehbar. Jedenfalls entstand im Biebricher Schlosspark, etwa zeitgleich zu Köln, eine überlebensfähige Population, die trotz aller Bedenken die folgenden Winter überstand. Von diesen zwei Orten aus haben sich die Sittiche in Mainz und den meisten Großstädten entlang des Rheins ausgebreitet. Ihre Bestandsgröße wird in Deutschland heute auf über 30.000 Individuen geschätzt.
Auch in den meisten anderen EU-Staaten südlich des Ruhrgebiets und Ostenglands sind die Sittiche in hauptsächlich größeren Städten fest etabliert. Immerhin brachte schon Alexander der Große die ersten Tiere aus dem damaligen Persien mit, woher auch ihr Zweitname „Alexandersittich“ stammt. Städtetouristen kennen sie aus Barcelona, Amsterdam oder Paris. Bekannt ist bis heute die Geschichte aus Den Haag, wo das Parlament einmal eine Debatte aufgrund des ohrenbetäubenden Geschreis der Vögel unterbrechen musste. Es liegt in der Tat in der Ironie der Natur, dass die Ästhetik ihres hellgrünen Federkleids samt knallrotem Schnabel (siehe Foto) im krassen Kontrast zu ihrem „Gesang“ steht, der eher an das Gekrächze von pubertierenden Krähen erinnert. In Europa siedeln sich Halsbandsittiche derweil am liebsten in alten Bäumen mit ausreichend vorhandenen Bruthöhlen an, die sie vor allem in den mächtigen Platanen finden. Von diesen Schlafbäumen aus ziehen sie in Gruppen über das Stadtgebiet und bevorzugt in die anliegenden Schrebergärten, um frisches Obst zu finden. Im Winter tun es auch Kerne, Samen und Nüsse.
Die von manchen schon als „Papageienbäume“ bezeichneten Ahornblättrigen Platanen, heute die dominanten Stadtbäume in Mitteleuropa, gehören übrigens ebenso wenig zu den heimischen Arten, sondern sind erst um 1650 aus einer Kreuzung entstanden. Fremde Vögel auf falschen Bäumen also, kann das wirklich gutgehen? Die Frage, ob und wie die Sittiche die heimischen Vogelarten und Ökosysteme gefährden, beschäftigt Ornithologen schon seit geraumer Zeit. Die gute Nachricht: Weder in Bezug auf die Bruthöhlen noch auf das Nahrungsangebot scheinen sie bisher andere Vögel zu verdrängen. Genau wie bei den ebenfalls eingeführten Nilgänsen sorgen eher Lärmbelästigungen und die Verkotung der Parks für Ärger. Schon 2017 titelte der Wiesbadener Kurier: „Halsbandsittiche verdrecken die Adolfsallee in Wiesbaden“, was nicht einmal besonders übertrieben war. Ob es den Vogelfreunden Ende der Sechziger nicht klar war, dass Freiheit für alle in erster Linie gelebte Toleranz und Akzeptanz voraussetzt?
Doch nicht wenige sehen in den bunten Sittichen eine Bereicherung für die grauen Städte. Besonders am Abend, wenn die Gruppen zu ihren Schlafbäumen zurückkehren, bereitet es viel Freude, die sozialen und aufgeweckten Vögel bei ihrem Treiben zu beobachten. Neben dem Halsbandsittich kommt im STUZ-Gebiet auch noch der sehr ähnliche Große Alexandersittich (Psittacula eupatria) vor, von dem es einige hundert Tiere in Deutschland gibt. Beide Arten von einander zu unterscheiden, ist eine sportliche Herausforderung für Hobby-Ornithologen (dazu empfehlenswert die App „NABU Vogelwelt“). Wer in Ruhe Papageien in freier Wildbahn betrachten möchte, kann neben den Hot Spots im Biebricher Schlosspark und der Adolfsallee auch im Gonsbachtal oder in den Grünanlagen in der Mainzer Oberstadt sein Glück versuchen. Sofern sie nicht eh schon ständig am Fenster vorbei fliegen.