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Inklusion „in“ machen

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Es fängt bei dem Weg zur Arbeit an: Ich fahre mit dem Bus. Um zur Bushaltestelle zu kommen, muss ich die Treppen im Haus nach unten und dann einen schmalen, unebenen Weg nehmen. Das Busfahren selbst bringt ebenfalls einige Herausforderungen mit sich: es gibt nur einen Platz für einen Rollstuhl. Die Haltestellen werden erst in Mainz laut angesagt, und bis dahin hilft nur die Anzeige auf dem kleinen Display zur Orientierung. Wenn jemand diesen Artikel lesen möchte, gehen damit auch einige Barrieren einher. Er ist nicht in einfacher Sprache geschrieben und die Schrift ist klein. Über diese alltäglichen Barrieren mache ich mir selten Gedanken, da sie für mich mit Leichtigkeit überwindbar sind.

von Nathalie Klump

Barrierefreiheit ist ein elementarer Bestandteil der Inklusion. Beim „Inklusiv sein“ geht es darum, Hilfsmittel bereitzustellen, die es Menschen mit Beeinträchtigungen ermöglichen, an möglichst vielen Tätigkeiten des Alltags teilzunehmen. Bereits im Bildungssystem sind, wenn es um Inklusion geht, starke Defizite zu erkennen: höhenverstellbare Tische, das Nutzen von geräuschunterdrückenden Kopfhörern im Unterricht, Physiotherapie im Raum nebenan und Begleitpersonen, die Schüler:innen im Schulalltag unterstützen – all das scheint einer Utopie gleichzukommen, obwohl diese Mittel für viele Menschen mit Beeinträchtigung essentiell zur Teilnahme sind. Die Edith-Stein Schule in Hochheim schafft es, diesen Bedürfnissen ihrer Schüler:innen nachzukommen.

Die Fachoberschule (FOS) für Wirtschaft richtet sich explizit an Menschen mit körperlichen und motorischen Beeinträchtigungen und führt konkrete Schritte zur Inklusion durch. Im ersten Jahr an der FOS befinden sich die Schüler drei Tage im Betrieb und zwei Tage in der Schule. Die Schule unterstützt das Modell BÜA, kurz für „Berufsfachschule Übergang in Ausbildung“, das seit einigen Jahren in Hessen an Fachoberschulen getestet wird. Die Edith-Stein Schule ist komplett barrierefrei aufgebaut und eingerichtet. Je nach Beeinträchtigung gibt es einen entsprechenden Nachteilsausgleich für die Schüler:innen. Reagiert jemand beispielsweise sensibel auf Umgebungsgeräusche, da er dem Autismus-Spektrum angehört, darf er im Unterricht geräuschunterdrückende Kopfhörer nutzen. Silke Sell, die Schulleiterin der Fachoberschule, stellt klar, dass es hier wichtig ist, nicht die Beeinträchtigung selbst in den Vordergrund zu stellen: „Stattdessen muss die Frage beantwortet werden, welche Hilfsmittel die Person benötigt, um bei mir im Unterricht zurechtzukommen.“ Bei anderen weiterführenden Schulen sei Inklusion in Form von Barrierefreiheit laut Sell oft nicht gegeben. Da finge es bereits bei höhenverstellbaren Tischen an. Doch selbst, wenn diese Barrierefreiheit gegeben wäre, würden viele von Sells Schüler:innen es präferieren, auf der Edith-Stein Schule zu bleiben. Grund dafür sei ihre Sorge davor, in Regelschulen von Mitschüler:innen mit dem „Anders sein“ konfrontiert zu werden. Der Schulleiterin fällt in ihrem Alltag auf, dass sich die Zukunftsängste der Schüler:innen auf der Edith-Stein Schule in mancher Hinsicht von denen von Schüler:innen ohne Beeinträchtigung unterscheiden: „Hier gibt es viel Zukunftsangst im Zusammenhang mit der Abhängigkeit von Hilfsmitteln und anderen Personen. Es wird sich hier mehr gefragt ‚Wie kann ich später selbstständig sein?‘ und ‚Werde ich am Ende alleine leben können? In welchem Maße?‘“ Dabei haben sie am Ende ihres Schulgangs ebenfalls einen Fachoberschulabschluss in Wirtschaft.

An der Fachoberschule erlangen die Schüler:innen ihren ersten Einblick in den Arbeitsmarkt und somit in verschiedene Zukunftsperspektiven. Mit Ausflügen in verschiedene Werkstätten und Inklusionsbetriebe, aber auch in Betriebe des freien Marktes wird ihnen zusätzlich Berufsorientierung ermöglicht. Auch beim Finden von Praktikumsplätzen hilft die Schule ihnen. Leider sind viele Arbeitsplätze nicht barrierefrei, selbst wenn Interesse von Arbeitgeberseite besteht, Inklusion zu ermöglichen. Ein wichtiger Faktor sei die Erreichbarkeit des Arbeitsplatzes selbst. Sell spricht von einem „Treffen auf Regelbedingungen, die nicht inklusiv sind“.

Laut Sell bilden sich Vorurteile aus mangelndem Kontakt zu Menschen mit Beeinträchtigungen: „Wir lernen gar nicht, miteinander umzugehen, weil beeinträchtigte Menschen teilweise sehr abgeschottet sind. Dabei benötigen wir alle Hilfsmittel, um am Leben teilzunehmen. Ob es die Brille, die Kopfhörer, der Rollstuhl oder ein Helfer ist.“ Silke Sell stellt klar: „Es geht bei der Inklusion am Arbeitsplatz nicht um die Betreuung oder die Hilfestellung, die geleistet werden muss, sondern um die Teilhabe am Leben. Jedoch wird diese in der Außenwahrnehmung auf Betreuung reduziert.“ Gesetzlich wird das Thema der Inklusion insofern abgedeckt, dass Arbeitgeber größerer Unternehmen dazu verpflichtet sind, fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit Menschen zu besetzen, die eine Schwerbehinderung aufweisen. Eine Studie der Arbeitsagentur 2022 zeigt, dass viele Unternehmer diese Pflicht nicht vollständig bis gar nicht erfüllen. Folglich ist die Arbeitslosigkeit bei Menschen mit Schwerbehinderung deutlich höher als die bei Menschen ohne Schwerbehinderung.

Inklusion in der Orangerie

Für Menschen mit Beeinträchtigung gibt es verschiedene Optionen, nach der Schule in die Arbeitswelt einzusteigen. Arbeiten ist eine Form der Teilhabe am Leben. Wie wir Arbeit werten und wahrnehmen ist nicht nur von der Branche abhängig, sondern auch von unseren Fähigkeiten und Kapazitäten. Die Orangerie Aukamm in Wiesbaden nimmt ihre Pflicht, Menschen mit Beeinträchtigung die Teilhabe an Arbeit zu ermöglichen, sehr ernst. Der Betrieb ist eine Tochterfirma des Facettenwerks und finanziert sich durch diverse Geschäftsbereiche, wie das Café im Aukammtal, den Anbau von Pflanzen und Gemüse und den Garten-und Landschaftsbau.

Torsten Schäfer und Johannes Löhde gewähren einen Einblick in den Alltag der Mitarbeiter:innen des Inklusionsbetriebs. Der Unterschied zu anderen Unternehmen wird schnell deutlich: Torsten Schäfer, Leiter der Orangerie, schildert die Struktur des Betriebs: hier werden Arbeitsabläufe von Anleiter:innen koordiniert, die nicht nur fachliche Kompetenzen, sondern auch pädagogische Fähigkeiten besitzen müssen. Zudem liege der Schutz der Mitarbeiter:innen im Fokus. In der Regel arbeiten sie 35 Stunden in der Woche, mit der Option, die Arbeitszeit an persönliche Belange anzupassen. Im Berufsbildungsbereich der Orangerie wird es Menschen ermöglicht, in verschiedene Berufe hinein zu schnuppern und in einer berufsorientierten Ausbildung von zwei Jahren Fähigkeiten und Qualifikationen zu erlernen, die ihnen im Betrieb selbst und auf dem ersten Arbeitsmarkt den Einstieg ermöglichen. Später stellt die Orangerie selbst die Mitarbeiter:innen ein oder hilft bei der Vermittlung zu Werkstätten und Betriebe.

Johannes Löhde, Anleiter der Grünpflege, der Gärtnerei und des Hofladens, schildert die Herausforderungen im Alltag. Es ist seine Verantwortung, seine Mitarbeiter:innen sorgfältig in ihre Aufgaben einzuweisen und gegebenenfalls „Druck zu machen“, wenn ein Prozess nicht schnell genug voranschreite. Schließlich gehe es auch um Kundenzufriedenheit, da die Orangerie ein Unternehmen sei, das zum betrieblichen Erhalt Gewinn generieren müsse. Den Eintritt auf den ersten Arbeitsmarkt bezeichnet er als „tricky“. Er sieht den Inklusionsbetrieb als eine gute Instanz zwischen Werkstatt und erstem Arbeitsmarkt. „Oft sind Mitarbeitende hier zu stark für die Werkstatt, doch für den ersten Arbeitsmarkt noch nicht bereit“, erklärt er. Der Druck auf dem ersten Arbeitsmarkt sei noch einmal deutlich höher als in einem Inklusionsbetrieb. Zum Beispiel arbeitet Marius (26) seit fast fünf Jahren in der Orangerie. Zuvor hat er in einem Friedhofsteam gearbeitet, wollte jedoch in einer Gärtnerei arbeiten. „Die Arbeit ist hier einfach entspannter. Auf dem ersten Arbeitsmarkt war es schon sehr stressig. Mit Maschinen arbeiten hat mir auch nicht so gefallen“, erklärt er. Auch Katarina (22) ist zufrieden mit der Arbeitsatmosphäre. Sie ist seit zehn Monaten in der Orangerie tätig und berichtet ebenfalls, dass sie die Ruhe und die frische Luft hier sehr genieße. Beide Mitarbeiter:innen räumen jedoch ein, dass die Arbeit teilweise anspruchsvoller sein könne.

Zwischen Werkstatt und erstem Arbeitsmarkt

Andreas Form, der Fachbereichsleiter für in.arbeit, einer Abteilung der Werkstatt in.betrieb in Mainz, arbeitet direkt an der Schnittstelle zwischen Werkstatt und Vermittlung in den Arbeitsmarkt. Er vermittelt Werkstattmitarbeiter:innen an Betriebe in Rhein-Hessen in Form von Praktika, Außenarbeitsplätzen und teilweise sozialversicherungspflichtigen Anstellungen. Zu in.betrieb gehören auch zwei Inklusionsbetriebe, das wasch.werk und das rad.werk. Das Werkstattgebäude selbst ist natürlich barrierefrei: breite Gänge, eine Kantine rechts vom Haupteingang, Aufzüge und große Displays mit Touch-Funktion, die den Mitarbeiter:innen zur Orientierung im Arbeitsalltag dienen.

In.arbeit selbst kooperiert gleichzeitig mit circa 300 Unternehmen aus verschiedenen Branchen und begleitet die Mitarbeiter:innen auf ihrem Weg in den ersten Arbeitsmarkt. Form erzählt, dass selbst bei der Akquise der Unternehmen oftmals Überzeugungsarbeit zu leisten sei, bis sie sich auf eine Kooperation einließen. Dabei sehe er hohes Potential beim Einstellen von Menschen mit Beeinträchtigungen, vor allem angesichts des Fachkräftemangels. Leider jedoch komme öfters zu einem „Mismatch zwischen dem Willen, Menschen mit Beeinträchtigungen einzustellen, und der Umsetzung selbst“. Nut teilweise würden Unternehmen ein neues Jobprofil konstruieren, das auf die Stärken der Person mit Beeinträchtigung abgestimmt sei. Die konkrete Arbeitseinweisung in einem neuen Unternehmen sei ebenfalls eine Herausforderung, da für die neuen Mitarbeiter:innen vieles, was selbstverständlich erscheine, gar nicht schlüssig sei. Um Fehler im Arbeitsprozess zu vermeiden, müssten Unternehmer die Arbeitsabläufe deutlich artikulieren. Form erklärt, dass dabei oft diese Abläufe vom Unternehmer reflektiert und angepasst würden, sodass sie selbst auch einen Erfahrungsgewinn aus diesem Prozess mitnehmen könnten. Zudem sei es wichtig, dass es im Unternehmen eine Ansprechperson für Mitarbeiter:innen mit Beeinträchtigung gebe. Dabei unterstütze in.arbeit die Unternehmen bei der Integration ihrer Mitarbeiter:innen, so gut wie möglich. So werden Begleitpersonen, die mit dem Mitarbeiter oder der Mitarbeiterin die Strecke zum Betrieb abfahren und „üben“, bei Beginn eines neuen Berufs zur Verfügung gestellt. Außerdem bleibt in.arbeit mit dem Unternehmen, das ihre Mitarbeiter:innen aufnimmt, stetig im Kontakt. Andreas Form sieht ein Problem in der „Grundhaltung der Gesellschaft“ gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen. Die erforderliche zwischenmenschliche Kompetenz sei in einigen Betrieben nicht gegeben. Der Unternehmer sei in dem Falle gewillt, die Person einzustellen, habe aber die Befürchtung, dass es mit seinen Mitarbeiter:innen nicht funktionieren würde. „Teilweise haben Menschen Angst vor Inklusion und sehen das als Problem an“, erklärt Andreas Form: „Unternehmen sollten allerdings verstehen, dass die Rede von Menschen ist, die auch Fähigkeiten haben.“

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