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Tiere Umwelt

Verrat im Forst

Was kreucht und fleucht im STUZ-Gebiet? Wilde Tiere vor der Haustür, Teil 58: Der Eichelhäher

von Konstantin Mahlow

Der Wald schlummert still in der Morgendämmerung. Während die meisten Vögel noch schlafen und auch sonst weit und breit nichts zu hören ist, bewegt sich im Schutz der Stille ein einsames Reh auf eine Lichtung zu – und damit ins Visier des Jägers. Der Mann kauert schon seit Stunden auf seinem Hochsitz, hat die zweite Packung Zigaretten angebrochen und sehnt sich nach einem Erfolgserlebnis noch mehr als nach seinem Bett. Mit leeren Händen kann er nicht aufbrechen. Er atmet tief ein und zielt auf das ruhig grasende Reh. Ständig hebt das Tier beim Kauen den Kopf, schaut, lauscht. Er fängt an zu zählen: drei, zwei … „Dchää-dchää!“. Wild und Mensch schrecken gleichermaßen auf. „Dchää-dchää-dchää“, klingt es erneut aus den Baumwipfeln. Der Jäger schaut eine Sekunde nach oben, dann wieder in sein Visier – doch das Reh ist längst verschwunden. Der Eichelhäher blickt auf den Jäger herab. Mal wieder hat er ungewollt ein Leben gerettet. Aus dem Hochsitz sind laute Flüche zu hören.

Hüter der Wildtiere
Die Liste an Namen, die der Mensch dem Eichelhäher (Garrulus glandarius) über die Zeit gegeben hat, ist lang: ob Markwart, Herold, Holzschreier, Nusshacker, Eichensäer, Waldpolizist, Förster oder Gärtner des Waldes – fast alle sind Ausdruck seines beeindruckenden Skillsets. Der zur Familie der Rabenvögel gehörende Waldvogel ist besonders für seinen alarmierenden Ruf bekannt, mit dem er die übrigen Bewohner seines Habitats vor vermeintlich gefährlichen Eindringlingen warnt. In den sonst großraubtierarmen Wäldern im STUZ-Gebiet ist das – neben Raubvögeln und Mardern – gerne auch der Mensch, der ihm daher den weiteren Kosenamen „Verräter des Jägers“ gegeben hat. Füchse, Rehe und Wildschweine profitieren alle von dieser netten Geste, weil sie gelernt haben, das Frühwarnsystem der Eichelhäher entsprechend zu deuten.

Kluges Köpfchen
Der Eichelhäher ist aber nicht nur für die Sicherheit im Wald zuständig. Man nennt ihn auch den Gärtner, weil er für die stete Vermehrung des Baumbestands sorgt. Dafür benötigt der nahe Verwandte der Krähen eine so beeindruckende Gehirnleistung, dass ihn das Magazin GEO in einem nahezu euphorischen Artikel über das Erinnerungsvermögen der Häher als den „Affen der Lüfte“ bezeichnet. Die hochintelligenten Vögel vergraben ab Oktober ein großes Depot an Eicheln und Nüssen – bis zu 5.000 Baumfrüchte von 20 Kilogramm Gewicht für einen Winter. Beinahe alle davon würden sie auch wieder finden, wenn sie denn alle bräuchten. Dabei orientieren sich Eichelhäher an den spezifischen Gegebenheiten der Landschaft. Etwa ein Drittel lassen sie wegen des Überflusses liegen – eine neue Generation wertvoller Bäume wie Eicheln, Walnüsse und Edelkastanien kann in ihren Verstecken keimen. Ein Verräter als Aufforster der Wälder.

Dank seines Verstands prägt sich ein Eichelhäher Jahr für Jahr tausende Orte ein und beweist dabei ein schier unglaubliches Gedächtnis, das ein Menschen niemals aufbringen könnte. Für diese Arbeit investiert er im Herbst bis zu elf Stunden am Tag und legt beim Sammeln und Verstecken teils acht Kilometer zurück. Auch sonst lassen Eichelhäher sich nicht so einfach hinters Licht führen: Im besagten GEO-Artikel wird von einer Studie berichtet, in der Forschende so taten, als würden sie einen Futterhappen von der einen in die andere Hand verschwinden lassen. Die Eichelhäher ließen sich von der Scharade kaum und sogar weit seltener als menschliche Probanden täuschen.

Ganz im Gegenteil: Sie veräppeln gerne andere Vögel, indem sie beispielsweise zahllose Stimmen imitieren können. Doch diese Intelligenz überrascht mit einem Blick auf den Familienstammbaum nicht wirklich: auch Krähen und Raben zählen zu den geistigen Überfliegern im Tierreich.

Um dem smarten Eichelhäher zu sehen oder zu hören, reicht in bevorzugten Lebensräumen wie dem Lennebergwald meist nur ein kurzer Spaziergang. Eichelhäher wagen sich aber auch weit in die Städte hinein und sind in Mainz vor allem in baumreichen Gegenden wie der Oberstadt zu finden. Letztes Jahr brütete auch ein Pärchen in der Josefstraße – Alarmrufe inklusive. Ob sie dabei Kleinkriminelle vor der Polizei warnten oder einfach bei jedem Menschen sicherheitshalber ein Signal abgaben, ist unbekannt.

Foto: Jakub Hałun, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

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