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Gesellschaft Mainz

Ein Familienleben voller Nähe

Kurze Nächte, Pflegeroutinen, Therapie: Der Tagesrhythmus von Familie Müller ist streng getaktet – 24/7. Gleichwohl wird jeder Moment bewusst erlebt und kleine Alltagssituationen werden intensiv wahrgenommen.

von Ulrich Nilles

Britta (37) und Patrick (35) leben mit ihrer Tochter Thea (6) in Mainz. Thea ist ohne erkennbare Vorzeichen mit einer schweren Mehrfachbehinderung zur Welt gekommen und in allen Lebensbereichen auf Unterstützung angewiesen. Das Familienleben richtet sich nach ihren Bedürfnissen und ist dabei geprägt von Nähe, Humor und einem starken Miteinander. „Wir versuchen, eine Atmosphäre zu schaffen, in der Lachen, kleine Rituale und gegenseitige Achtsamkeit Platz haben“, erzählen die Eltern.

Thea beeindruckt sie immer wieder mit ihrer Lebensenergie und ihrer unverwechselbaren Art zu kommunizieren: über Blicke, Laute oder feine Gesten. „Sie ist eine absolute Quatschnudel“, berichtet ihr Vater lächelnd und ergänzt: „Sie liebt es, mit mir Unsinn zu machen und laut zu lachen.“ Solche Momente berühren die Eltern besonders, weil sie zeigen, wie viel Persönlichkeit und Präsenz in ihrer Tochter stecken.

Ein Leben im Takt der Pflege
Der Alltag der Müllers beginnt fast immer früh, oft noch vor dem Morgengrauen, da Thea schlecht schläft. Er ist geprägt von Pflegeroutinen, medizinischen Themen und Therapieterminen. Obwohl vieles nach strengen Routinen verläuft, ist der Tagesablauf nie wirklich planbar. Es gibt unvorhersehbare Situationen, Tage, an denen das Kind besondere Nähe benötigt und volle Aufmerksamkeit verlangt. „Das beansprucht uns körperlich und mental“, erklären Britta und Patrick und fügen an. „Wir schaffen trotzdem Strukturen, die Halt geben und den Tag überschaubar machen.“
Rückhalt erfährt die Familie auf unterschiedliche Weise. Thea besucht eine heilpädagogische, integrative Kita und der Kinderhospizdienst Mainz begleitet sie über eine ehrenamtliche Mitarbeiterin. Therapeut:innen trainieren mit Thea den Muskelaufbau, üben Bewegungsmuster ein und beugen Fehlstellungen vor. Gelegentlich helfen eine liebevolle Babysitterin, Familienmitglieder oder enge Freunde und vertraute Personen. „Jede Form von Entlastung verschafft uns Freiraum, auch wenn es oft nur kleine Zeitfenster sind“, erklärt Britta. Diese Momente der Ruhe geben Kraft und helfen, den anstrengenden Alltag zu bewältigen.

Mehrmals im Jahr nutzt die Familie auch stationäre Kinderhospize, etwa in Bamberg oder Wiesbaden. Dort übernehmen Fachkräfte die Pflege von Thea, während die Eltern einfach durchatmen können. Trotz allem schöpfen Britta und Patrick ihre Kraft vor allem aus Thea selbst, aus ihrer Vitalität und ihrer Neugier.

Momente, die den Blick verändern
Viele Leute reagieren zunächst unsicher, wenn sie Thea kennenlernen. Sie sehen ihre Hilfsmittel und die Beeinträchtigung. Doch je mehr Zeit sie mit ihr verbringen, desto schneller verändert sich ihr Blick. Thea hat eine offene, herzliche Art, die beeindruckt und zeigt, dass Begegnung auch ohne viele Worte möglich ist.

Bis heute ist Britta und Patrick eine Begebenheit in Erinnerung, bei der Thea einfach als Kind wahrgenommen wurde. Während eines Urlaubs im Allgäu kam die gleichaltrige Klara auf Thea zu und meinte: „Hallo, ich bin Klara, und wie heißt du?“ Sofort entstand eine Kommunikation und ein kleines Team, und Klara schob Thea durch das Hotel. Das hat nicht nur die Eltern berührt, sondern auch andere Gäste.

Schwierig sind Momente, in denen nicht mit, sondern über Thea gesprochen wird, als sei sie nicht anwesend. Oder wenn Menschen verunsichert reagieren und sie anstarren. „Solche Situationen zeigen, wie wichtig Aufklärung und Begegnung auf Augenhöhe sind“, betont Britta.

Es gibt auch Umstände, in denen sie sich allein gelassen fühlen, etwa im Umgang mit Behörden, bei der Organisation von Hilfen oder wenn das System an seine Grenzen stößt. „Diese Einsamkeit ist sehr belastend und betrifft viele pflegende Eltern“, gestehen Britta und Patrick offen.

Häufig stoßen sie auf strukturelle Hürden. „Wir müssen oft erklären und kämpfen, warum Thea ein bestimmtes Hilfsmittel braucht, obwohl es eigentlich offensichtlich ist“, erzählen sie. Besteht Bedarf an einem solchen Hilfsmittel, wird dieser zunächst von den behandelnden Therapeut:innen und Ärzt:innen festgestellt, die das Kind seit Jahren begleiten. Nach der Einreichung bei der Krankenkasse wird der Antrag erneut vom Medizinischen Dienst geprüft, oft von Personal, das nicht aus den entsprechenden medizinischen Fachrichtungen stammt. Nicht selten führt das zu Ablehnungen und die Prozedur beginnt von vorn. „Neun Monate hat dieser Prozess um Theas Rollstuhl gedauert, während wir darauf gehofft haben, dass unsere Tochter endlich diese Mobilitätshilfe erhält, um sich freier und sicherer bewegen zu können“, berichtet Britta.

Zwischen Zuversicht und Realitätssinn
Britta und Patrick wünschen sich vor allem, dass ihre Tochter immer Menschen um sich hat, die sie verstehen, annehmen und lieben, so wie sie ist: „Wir hoffen, dass sie Teil einer Gesellschaft bleibt, die Vielfalt nicht nur toleriert, sondern als Wert begreift“. Gleichzeitig möchten sie sicherstellen, dass Thea gut versorgt ist und dass sie als Familie Wege finden, das eigene Leben nicht aus den Augen zu verlieren.

Für andere Eltern mit beeinträchtigten Kindern finden Britta und Patrick ermutigende Worte: „Das Leben ist zugleich fordernd und bereichernd. Es gibt Tage, an denen wir an unsere Grenzen stoßen, körperlich, emotional, organisatorisch. Gleichzeitig erleben wir Momente voller Nähe, Liebe und Sinn, die wir ohne Thea nie erfahren hätten. Beides darf nebeneinander bestehen.“ Wichtig ist ihnen auch zu zeigen, dass man nicht immer stark sein muss. Hilfe anzunehmen, Aufgaben abzugeben oder zu sagen, ich kann gerade nicht mehr, sei ein Zeichen von Mut.

An die Öffentlichkeit richten die Müllers eine deutliche Botschaft: Familien mit beeinträchtigten Kindern brauchen keine Bewunderung oder gar Bedauern, sondern Strukturen, die Entlastung schaffen: flexible Arbeitszeiten, verlässliche Pflegeangebote, barrierefreie Teilhabe und vor allem Menschen, die hinschauen, zuhören und zupacken. Inklusion beginnt nicht in Gesetzen, sondern im ehrlichen Interesse aneinander.

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