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Wiesbaden

Vorglühen!

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Rasmus Engler und Jan Müller kommen ins Museum Wiesbaden. Geschichten und Gefühle der Neunziger. Damals war es eine verdammt gute Idee, nach Hamburg zu ziehen.

von Marc Peschke

Da sind wir uns doch einig: Die beste Musik Deutschlands kam in den Neunzigern aus Hamburg. Die Stadt war anders als heute: die Schanze ein alternativer Stadtteil, der Kiez noch keine Wochenend-Partyzone. „Vorglühen“, das neue Buch von Rasmus Engler und Jan Müller, nimmt uns mit in die Vergangenheit. Die wurde gemacht von Bands, die sich für den Gebrauch der Muttersprache als Mittel deutlicher Gesellschaftskritik entschieden hatten. Das war die „Hamburger Schule“ – die Begriffsnähe zur „Frankfurter Schule“ war kein Zufall. Das waren Cpt. Kirk, Blumfeld, Kolossale Jugend, Die Erde, Huah!, Die Antwort, Tocotronic oder Die Sterne. Die beiden maßgeblichen Klubs der Stadt hießen „Pudel Club“ (immer noch maßgeblich, irgendwie) und „Heinz Karmers Tanzcafé“ (längst geschlossen). Seit 1988 gab es in Hamburg auch ein neues, stilbildendes Plattenlabel für die neue Szene: „L’age d’or“: Das goldene Zeitalter. Und es war tatsächlich ein goldenes Zeitalter für Hamburg. Von dieser Zeit erzählt ein neues Buch, das sich aber nicht als Hamburger Schule- Dokumentation versteht, sondern ein fiktionaler Roman ist. Geschrieben haben ihn Jan Müller und Rasmus Engler: „Vorglühen“. Protagonist ist Albert Berger, gerade, wie so viele, aus der Provinz nach Hamburg verzogen, um hier zu studieren. Er merkt schon im Laufe der ersten Nacht, dass er am richtigen Ort gelandet ist.

Rausch und Begeisterung

In diesem Buch geht es um Rausch und Begeisterung: St. Pauli ist der Ort, an dem so viel passieren kann. Man liest sich zurück in die Neunziger in diesem Roman, der von zwei Männern gemeinsam geschrieben wurde, welche diese Zeit miterlebt haben und die zum Inventar der damals angesagten Kneipen der Stadt gehörten. Der eine ist Rasmus Engler, Jahrgang 1979, Schlagzeuger und Gitarrist in Bands wie „Gary „oder „Herrenmagazin“, der immer noch in Hamburg lebt und in dem Club „Uebel & Gefährlich“ arbeitet. Der zweite, Jan Müller, 1971 geboren, ist Bassist der Band Tocotronic und Macher des hervorragenden Musikpodcasts „Reflektor“. Den beiden ist ein Buch geglückt, das eine Hommage an diese Stadt ist, die auf teilweise urkomische und manchmal auch ganz zärtliche Art große literarischen Themen verhandelt: Freundschaft, Verrat und Liebe.

Ein Pop-Sehnsuchts-Roman

Das alles liest sich ein wenig nostalgisch und sehr skurril: „Vorglühen“ ist ein Pop-Sehnsuchts- Roman über eine Zeit, in der man in Hamburg herrlich ziellos von Tresen zu Tresen stolpern konnte, um nichts anderes zu tun, um mit Freunden oder Fremden über Musik zu fachsimpeln oder einfach herumzualbern. Und genau das macht Albert, geht zum ersten Mal in seinem Leben allein zu einem Konzert und fängt an, Gitarre in einer Band zu spielen. Einen versifften Proberaum hat man schon, doch über den Bandnamen ist man sich uneins: „Halbhirnschlaf“, „Gütesiegel“, „Sportprinz“, „Kofferwort“, „Dosenbrot“, „Sartorius“, „Nordmende“, „Sportdach“, „Fallobst“, „Die Bags“, „Zeitenwende“ – oder doch lieber „Breitensport“? Engler und Müller, die sich erst Ende der Neunziger in einer WG in der Talstraße auf St. Pauli kennenlernten, haben selbst schon gemeinsam in verschiedenen Bands musiziert – eine der besten hat einen wirklichen Punknamen und heißt „Das Bierbeben“. „Wie war das Leben damals, wie war unser Lebensgefühl?“, darum geht es in dem Buch, sagt Jan Müller. Und es geht auch darum, dass es gut ist, wenn pure Vernunft nicht immer siegt, um einen Songtitel von Tocotronic zu zitieren.

Eine universelle Geschichte

Wenn Engler und Müller jetzt auf große Lese- Tour gehen und auch in Wiesbaden gastieren, dann sollten aber bitte nicht nur Männer um die 50 im Publikum sitzen. Denn dieses halbbiografische Buch, das die Autoren als „eine universelle Geschichte über Freundschaft und Liebe“ beschreiben, dieses Buch ist so geschrieben, dass es auch für Frauen um die 30 lustig sein kann, auch wenn es vorwiegend von jungen Männern erzählt. Aber am Ende bleibt dann doch ein bisschen Traurigkeit. Darüber, dass es so eine herrlich charmant-schrottige Stadt, wie es Hamburg damals war, heute nicht mehr gibt. Darüber, dass heute immer mehr subkulturelle Clubs und Bars schließen, immer mehr Off Spaces Geschichte sind, auch in Hamburg. Nachdem Tocotronic- Sänger Dirk von Lowtzow für sein literarisches Debüt „Aus dem Dachsbau“ gerade den Literaturpreis der Stadt Wiesbaden erhalten hat, kann man jetzt den Worten seines Bandkollegen Jan Müller lauschen, dessen Literatur aus einem anderen, bodenständigeren Holz geschnitzt ist. Fragen werden an diesem Abend sicher auch gerne beantwortet – etwa diese: Wie schreibt man überhaupt gemeinsam einen Roman?

Foto: Hans Scherhaufer


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