In der Tanne sitzt ein Hähnchen
Was kreucht und fleucht im STUZ-Gebiet? Wilde Tiere vor der Haustür, Teil 59: Das Wintergoldhähnchen
von Konstantin Mahlow
Sucht man nach Extremen im Vogelreich, verortet man die entsprechenden Arten meist in exotischere Gefilde als das STUZ-Gebiet. Der schwerste Vogel der Welt? Der Afrikanische Strauß. Der größte flugfähige Vogel der Welt? Der Wanderalbatros. Der seltenste Vogel der Welt? Der Spix-Ara in Brasilien. Der kleinste Singvogel der Welt? Das Goldhähnchen im Volkspark. Äh was? Ein goldenes Hähnchen in unseren Breiten mit einem Körpergewicht von 5 Gramm, also etwa 0,000036 Prozent der Masse des erwähnten bis zu 140 Kilo schweren Strauß? Klingt erst mal ausgedacht. Und doch ist jetzt die beste Zeit, das winzige Wintergoldhähnchen im eigenen Garten zu beobachten – falls man es nicht einfach übersieht.
Dabei lebt das Wintergoldhähnchen (Regulus regulus), dessen Erscheinung mit 9 cm Körperlänge mindestens so putzig wie sein Name ist, eigentlich am liebsten in Nadelwäldern, insbesondere lockeren Fichtenbeständen. Solche Bäume gibt es aber neben Tannen auch in Parks und Gärten, weshalb es den vielen anderen Singvogelarten allmählich in die Städte gefolgt ist. So konnten wir etwa eine Gruppe Goldhähnchen vor dem Hochhaus am Mainzer Volkspark beobachten, die sich an einer von Nadelgewächsen umsäumten Wasserstelle aufhielten. Dort suchen sie nach ihren Leibspeisen – winzige Insekten, Spinnentiere und deren Eier, im Winter auch Samen. Überhaupt haben sich Goldhähnchen perfekt an Nadelbäume angepasst: Das immergrüne Geäst bietet einen effektiven Schutz, um die eh kaum zu sehenden Goldhähnchen noch unsichtbarer werden zu lassen und ihre kugelförmigen Nester zu verstecken. Und wenn sie Durst haben, nehmen sie Regen- und Tautropfen von den Nadeln auf. Manche Hobbyornithologen schmücken ihre Futterhäuser im Winter daher mit Fichtenzweigen, um die Goldhähnchen gezielt anzulocken.
Dass das Wintergoldhähnchen kaum zu sehen ist und auch bei Vogelzählungen seltener gemeldet wird, obwohl es zu den häufigeren Brutvögeln in Mitteleuropa zählt, liegt ausschließlich an seiner Größe und dem sehr hohen, von vielen Menschen überhaupt nicht wahrnehmbaren Gesang, nicht aber an seinem hübschen Gefieder. Die Stimme ist im Gegensatz zu anderen Singvögeln sehr fein und ähnelt einer wispernden Tonreihe, die mal leiser, mal lauter wird und meist in einem Triller endet. Die Tonlage zwischen 8 und 9 kHz ist von älteren Menschen mit Hörbeeinträchtigungen gar nicht mehr wahrzunehmen, was in Nordhessen einst dazu führte, dass ein betagter Ornithologe die Goldhähnchen in der Region Marburg für ausgestorben erklärte. Doch er konnte sie einfach nicht mehr hören. Und was man weder sehen noch hören kann, ist schwierig zu greifen. Jetzt im Winter erhöht sich die Chance allerdings, da zumindest die Laubbäume und -büsche ihre Blätter abgeworfen haben und jegliche Vogelbeobachtung dadurch etwas einfacher wird. Sieht man endlich ein Goldhähnchen, versteht man auch den Namen: Auf seinem Köpfchen sitzt ein auffällig goldgelber Scheitel, auch als Krone bekannt, der zudem an einen Hahnenkamm erinnert.
Aber woher kommt dann der „Winter“ im Namen? Die Antwort liegt in der Standorttreue der kleinen Vögel: Viele Wintergoldhähnchen in Mitteleuropa bleiben das ganze Jahr über hier, man kann sie also im Winter sehen – im Gegensatz zu ihren engsten Verwandten, den Sommergoldhähnchen (Regulus ignicapillus). Die ziehen nämlich nach der Brutzeit ab September weg und kommen erst im April wieder – man sieht sie also nur im Sommer. So pragmatisch kann die Naturwissenschaft manchmal sein. Für uns Hobbyornithologen hat das auch einen Vorteil: Sehen wir im Winter ein Goldhähnchen, muss es sich um das Wintergoldhähnchen handeln. Und im Sommer sehen oder hören wir sie ja sowieso nicht. Ein weiterer Unterschied ist, dass das Sommergoldhähnchen sich lieber in Laubbäumen aufhält.
Trotz ihrer Verborgenheit ist der Bestand beider Arten stabil. Abzuwarten bleibt die Entwicklung des weiteren Fichtensterbens für die Wintergoldhähnchen. Fichten kommen von Natur aus in höheren Lagen wie den Alpen und einigen Mittelgebirgen vor und wurden einst als „Preußentannen“ flächendeckend in den Tieflagen gepflanzt. Heute sterben sie aufgrund von Wassermangel und Hitzestress als Folgen des Klimawandels als erstes ab, wenn es dem Wald schlecht geht. Daher werden Wälder wieder verstärkt zu Mischwäldern umgestaltet, was für die Goldhähnchen an sich kein Problem ist. Nur das völlige Verschwinden von Nadelbäumen wäre kaum zu kompensieren. Aber so weit ist es noch nicht, und wie genau sich die Vegetation in der Zukunft verändert, weiß auch noch keiner. So lange sollte man immer genau hingucken, wenn man an einer Tanne oder Fichte vorbeiläuft – es könnten sich kleine, goldene Hähnchen darin verstecken.
Foto: Francis C. Franklin, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons


